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Der Umfang der Hoelle

Der Umfang der Hoelle

Titel: Der Umfang der Hoelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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Boxen begonnen, ohne wirkliche Leidenschaft und mit der typischen Schwerfälligkeit des Spätberufenen. Was ihn nicht gehindert hatte zu erlernen, wie man Fäuste kontrolliert und effektiv in fremden Körpern unterbrachte, freilich nicht in fünf Körpern gleichzeitig. Aber darum ging es Reisiger auch gar nicht. Er wollte nicht eigentlich die anderen verletzen, sondern selbst verletzt werden. Er wollte einerseits ein Unglück verhindern, gleichzeitig aber wollte er bestraft werden. Und das war nun mal der Moment, da sich eine Strafe auch wirklich anbot. Reisiger war entschlossen, sich auf diese fünf wilden Gestalten einzulassen, wie man sich auf eine kleine Hölle einläßt, in der kleine Teufel werkeln. Für eine große Hölle hatten die fünf natürlich nicht das Format. Eine große Hölle war es auch nicht, was Reisiger vorschwebte.
    »Aus!« sagte Reisiger und ging ein paar Schritte vor, ohne Eile, so wie er ja auch nicht etwa geschrieen, sondern recht ruhig gesprochen hatte. Allerdings laut genug, um verstanden zu werden. Und tatsächlich schien ein jeder ihn gehört zu haben. Denn während noch kurz zuvor das Auftauchen der beiden beschürzten Engel nur einen einzigen der Hooligans zu einer kleinen Regung verlockt hatte, waren auf Reisigers gefaßten Kommandoton hin fünf Köpfe in seine Richtung geschwenkt.
    »Zieh Leine, alter Mann«, sagte der mit der Nase und dem Messer, »bevor ich dir zwei neue Augen ins Gesicht schnitze.« Und, nach einer kleinen Pause, um das Gesagte wie einen Brühwürfel zur Wirkung kommen zu lassen: »Wer braucht schon vier Augen?«
    Niemand braucht vier Augen, das ist richtig. Aber daß der Plattnasige »alter Mann« gesagt hatte und nicht etwa »Opa« oder »olle Schwuchtel«, deutete eine gewisse Unsicherheit an. Eine Unsicherheit, die er wohl selbst nicht wahrhaben wollte. Vergebens. Er wirkte bei weitem nicht mehr so gelassen-melancholisch wie gerade eben. Und machte nun auch noch den Fehler, sein aus der Tasche gezogenes Messer dem alten Mann entgegenzuhalten.
    »Ich weiß, wie ein Messer aussieht«, sagte Reisiger und fühlte sich auf eine unwirkliche Weise vergnügt.
    »Also doch vier Augen«, bestand der Messermann auf seiner Strategie.
    »Ich sehe mit den zweien, die ich besitze, ausgezeichnet«, erklärte Reisiger und nahm endlich seine Hände aus den Manteltaschen. »Und was ich sehe, sind ein paar jämmerliche Gestalten in viel zu großen Lederjacken. Wer verkauft euch solches Zeug? Wer redet euch ein, daß ihr damit wie richtige Menschen ausseht? Oder wollt ihr gar nicht wie Menschen aussehen? Macht euch das glücklich, für eine Kreuzung aus Kugelfisch und Schimpanse gehalten zu werden? Mein Gott, ich versteh euch nicht. Was für eine Lust kann denn darin bestehen, häßlich zu sein?«
    Natürlich stellte sich eine ganz andere Frage, ob das nämlich die richtige Art war, eine Eskalation zu vermeiden. Immerhin kam es augenblicklich zu einer Verschiebung der Interessen. Die fünf Kerle wandten sich abrupt von den Frauen ab. Die Hand des Dorftrottels fiel wie alter Putz von der Brust der Attackierten. Auch aus dieser Hand wuchs kurz darauf die Klinge eines Messers, kleiner, schmaler, aber nicht minder geeignet, ein drittes und viertes Auge zu fabrizieren. Mag sein, daß Reisiger einen Moment zweifelte, ob denn diese Hölle wirklich so klein war, wie er gedacht hatte. Aber er stand eisern zu der einmal getroffenen Entscheidung. Auch war sein Blut fortgesetzt kühl. Kühl, wie er sich das nie hätte vorstellen können. Er sagte: »Messer machen einen auch nicht schöner.«
    Der Dorftrottel vollzog einen Ausfallschritt, sprang dann auf Reisiger zu und richtete in der Folge das Messer auf dessen Kehle, derart, daß die Spitze nur wenige Zentimeter vor dem deutlich hervorstehenden Adamsapfel des Zweiundfünzigjährigen zu stehen kam.
    »Was soll ich jetzt tun?« fragte Reisiger trocken und blickte am Messer vorbei in das Gesicht des anderen wie in einen kleinen, leeren Sack. »Lachen? Weinen? Einen Fotografen rufen, damit er uns beide ablichten kann, wie wir da stehen und nicht wissen, wie’s weitergeht. Etwas muß ja wohl geschehen. Ich an deiner Stelle … also ich würde zustechen. Aber nicht bis übermorgen warten.«
    Reisiger schlug dem jungen Mann das Messer aus der Hand. Er tat dies rasch und unvermutet, beinahe leger. Als übe er das bereits ein halbes Leben. Die Wirklichkeit freilich war dahingehend eine andere, daß bei aller theatralischer Lockerheit, die Reisiger

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