Der Umfang der Hoelle
aus gutem Grund.
»Was ist mit ihm?« fragte Rösner, den Braten riechend, was natürlich bedeutete, daß sie viel zu nahe am Braten stand.
»Er ist jetzt alleine, der Hund. Pliska tot, Rubin tot, und Bobeck dürfte kaum demnächst auftauchen, um das Tier seines verstorbenen Sekretärs zu adoptieren.«
»Was wollen Sie von mir?«
»Nehmen Sie den Hund zu sich«, forderte Reisiger.
»Warum tun Sie das nicht selbst, wenn Ihnen der Köter so am Herzen liegt?«
»Ich habe mir das überlegt. Aber es geht nicht. Aus ästhetischen Gründen. Ein Querschnittsgelähmter mit einem dreibeinigen Hund. Unvorstellbar. Das ist wie eine Parodie, eine miese Parodie, niveauloser Sarkasmus. Das kann ich mir nicht antun. Wir beide, Vier und ich, würden einen jeden Blick anziehen. Niemand würde lachen, aber man wäre fassungslos. Oder würde es für einen geschmacklosen Witz halten. Stellen Sie sich einen Blinden vor, der nicht von einem Blindenhund, sondern einem blinden Hund begleitet wird.«
»Das ist ein schlechter Vergleich.«
»Das ist ein guter Vergleich. Die Sache mit mir und Vier ist unmöglich. Wirklich nicht zu machen, wenn man die eigene Würde und die des Tiers erhalten möchte. Bei Ihnen wäre das völlig anders. Eine hübsche junge Frau und eine verletzte Kreatur. Das paßt. Das rührt, ohne abzugleiten.«
»Geben Sie sich keine Mühe. Und erzählen Sie mir jetzt bitte nicht, was mit diesem Hund passieren wird, wenn ich mich nicht opfere.«
»Pliskas Hund. Sie mochten Pliska doch, nicht wahr?«
»Er hätte mich, wenn nötig, umgebracht.«
»Er hätte Sie, wenn nötig, geheiratet.«
»Sie bilden sich wohl ein, weil Ihr Rückenmark im Eimer ist, sich alles erlauben zu können.«
»Es war ein Versuch«, sagte Reisiger. »Kein Wort mehr davon.«
Ein Wort war auch nicht mehr nötig. Tags darauf fuhr Eva Rösner zu Pfarrer Marzell, der unwillig, aber den Wunsch Reisigers erfüllend, den Hund fürs erste bei sich untergebracht hatte. Marzell mochte das Tier nicht, trug ihm sein Geknurre nach. Die Antipathie war beiderseitig und unauflöslich. Kein Wunder, daß Vier das Erscheinen Eva Rösners mit seltener Hingabe begrüßte. Als sie ihn mit sich nahm, war ihm, als sei er zum zweiten Mal in seinem Hundeleben aus einer Lawine befreit worden.
»Jetzt haben Sie, was Sie wollten«, sagte Rösner zu Reisiger am Telefon.
»Ich werde ewig an Sie denken.«
»Lieber nicht.«
Damit war auch das erledigt.
Der Zauber unlesbarer Bücher
Reisigers Rekonvaleszenz zog sich im Rahmen des Üblichen dahin. Am raschesten gesundete seine Seele. Und an die Existenz einer solchen glaubte er ja unbedingt. Entsprechend seiner Weltsicht war er nicht nur dem Tod, sondern vor allem dem Teufel entkommen. Und das wog nun um einiges schwerer. Den Umstand, seine noch verbleibende Lebenszeit in einem Rollstuhl zuzubringen, empfand er ein stückweit als notwendige Folgeerscheinung seiner Errettung. Als eine Art Abgeltung. So ganz ohne Blessuren konnte man sich den Anbiederungen des Teufels nun mal nicht entziehen, wenn dieser – und zwar aus wahrlich unerfindlichen Gründen – sich für einen und nicht für einen anderen interessierte. Reisiger hatte einen immensen Lottogewinn geopfert, die Kraft seiner Beine verloren, würde mit einiger Sicherheit auch nicht wieder in seinen Beruf zurückkehren, mußte die erste Zeit in Sanatorien zubringen, eine enervierende Physiotherapie über sich ergehen lassen, das kurzzeitige Interesse der Medien an seiner Person abwehren, das merkwürdige Engagement seiner Frau in Kauf nehmen und immer wieder die Aufstellung erhaltener Blumensträuße erdulden. Aber er befand sich im Besitz seiner Seele. Und so etwas hätten nur jene Leute mit einem Achselzucken kommentiert, die ihre Seele längst verloren oder verkauft hatten und gar nicht mehr wußten, wie sich das anfühlte, über ein solches Ding zu verfügen. Ein ganzer Mensch zu sein.
Reisiger war also, seinen Schrammen und Einbußen zum Trotz, ein ganzer Mensch geblieben. Ja, er fühlte sich vollständiger denn je zuvor. So vollständig, daß er den Mut besaß, eine seiner beiden wirklichen Leidenschaften aufzugeben: das Lottospiel. Die Möglichkeit, noch einmal als einziger Spieler einen umwerfenden Jackpot zu knacken, lag bei Null. Erst recht ohne Hilfe des Teufels, der gemäß Reisigers neuester Vermutung ein guter Verlierer war und angesichts unzähliger Individuen keinem ein zweites Mal seine fragwürdige Ehre erwies. Nein, die Lottosache war für
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