Der Umfang der Hoelle
Aber auch der Ärger verließ ihn. Erneut wurde es tiefste, finsterste Nacht.
Pause. Kurze Pause.
Ist der Tod eine Zunge? Das wohl kaum. Es war aber eindeutig eine Zunge, die Reisiger auf seinem Gesicht spürte. Es war das einzige, was er wirklich registrierte, sodaß ihm diese Zunge riesengroß erschien, ein feuchter Schwamm auf seinen Lidern. Er zweifelte nicht, am Leben zu sein. Die Zunge entfernte sich, glitt ab wie Wasser von einem Stein. Reisiger öffnete die Augen und erblickte … nun, es war jener Hund, der den Namen Vier trug und ehemals in Lawinen gestöbert hatte. Das Mondlicht auf dem Antlitz des Tieres fiel durch jene Schneise, die Reisiger mit seinem Sturz geschlagen hatte.
»Guter Hund«, sagte Reisiger.
Das sagte man nun mal in einer solchen Situation. Außerdem war Reisiger froh, neben dem Hecheln des Hundes auch die eigene Stimme zu vernehmen. Immerhin, wenn er schon den eigenen Körper nicht zu fühlen imstande war. Was auch immer er in Zukunft sein würde, zumindest weder taub noch stumm.
»Komm, hol Hilfe«, sprach Reisiger den Hund an.
Aber Vier rührte sich nicht vom Fleck, ging statt dessen zu Boden, die Vorderbeine so postiert, daß seine Pfoten Reisigers Schulter berührten. Es sah eigentlich aus, als bewache er einen Toten. Aber das war ein Gedanke, den sich Reisiger verbat. Auch war es ja nicht so, daß Reisiger – wie das immer wieder beschrieben wird – sich selbst betrachtete oder gar über dem eigenen Leib schwebte. Nichts Ungewöhnliches geschah. Er lag da, bewegungslos, wie nach einem solchen Sturz nicht weiter verwunderlich.
Und während er so dalag, vernahm Reisiger Rufe, die von oben her kamen, aus den Bäumen. Scheinbar war es einigen gelungen, im Geflecht der Äste hängenzubleiben. Aber da war noch etwas anderes, eine Folge von Geräuschen, die eine durch das Holz schreitende Person verursachte.
»Scheiße, Bobeck, Sie …!«
Es war aber nicht Bobeck. Es war Pfarrer Marzell. Er schien vollkommen unverletzt, woraus sich eine sogenannte schiefe Optik ergab. Nämlich die, Gott würde seine eigenen Leute begünstigen.
Der Geistliche stand aufrecht vor Reisiger. Nicht einmal seine Brille schien verrutscht. Der feine Riß, der durch das eine Glas führte, war natürlich auf die Entfernung nicht auszumachen. Vier knurrte, als erkenne er irgendeine Diabolie.
»Ist gut«, beruhigte Reisiger den Hund.
»Wie geht es Ihnen?« fragte Marzell.
»Ich kann mich nicht rühren«, sagte Reisiger und zeigte auf seine Beine.
»Also, Ihre Hände können Sie jedenfalls bewegen«, sagte Marzell. Nicht, daß er es vorwurfsvoll meinte. Aber so richtig nett hatte es auch nicht geklungen.
»Was denken Sie«, beschwerte sich Reisiger, »daß ich simuliere?«
»Lassen Sie mich sehen«, sagte Marzell und beugte sich zu dem Liegenden. Vier stand auf, entfernte sich aber keinen Schritt von seinem »Lawinenopfer«. Er schien durchaus zwischen der Kompetenz eines Klerikers und der eines Notarztes unterscheiden zu können. Intuitiv, wahrscheinlich.
Tatsächlich unternahm Marzell nicht viel mehr, als Reisiger aufhelfen zu wollen.
»Lassen Sie das!« fuhr Reisiger ihn an. »Es geht nicht. Ich bin wie angenagelt.«
»Wie Sie wollen«, sagte Marzell. Und: »Es wird am besten sein, ich hole Hilfe.«
»Finde ich auch.«
»Ich kann Sie also hier liegenlassen.«
»Der Hund paßt auf mich auf«, versicherte Reisiger. Der Gedanke war ihm lieb. Dann aber meinte er, es wäre vielleicht nötig, vorher nach den anderen zu sehen.
»Gut«, sagte Marzell, ein wenig unglücklich. Erste Hilfe war so wenig seine Sache wie Seelsorge. Er war ein wunderbarer Theologe. Aber nicht der Mann tröstender Worte. Er verschwand im Wald wie hinter einem Vorhang.
Eine Stunde später lag dieser Vorhang nicht nur im Feuerschein der noch immer brennenden Sternwarte, sondern auch im Scheinwerferlicht von Polizei und Rettung. Alle drei Semperkinder wurden aus der Höhe der Bäume gerettet, die Schwerverletzten Leo Reisiger und Harald Semper geborgen und ins nächstgelegene Krankenhaus transportiert sowie die beiden toten Frauen in Särgen abgelegt. Fehlte Gerda Semper. Sie war spurlos verschwunden. Abgesehen von der Spur, die ihr Sturz hinterlassen hatte. Offensichtlich war auch sie, ihrem Gewicht zum Trotz, in einem der Bäume hängengeblieben. Zudem mußte ihr gelungen sein, was nicht einmal ihre Kinder geschafft hatten. Sie war auf den Waldboden gelangt und sodann imstande gewesen, das Gelände zu verlassen. Es versteht
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