Der Umfang der Hoelle
Reisiger erledigt. Er wollte sich alleine der Betrachtung des Mondes widmen, und er wollte ein Buch über Purbach schreiben. Über den Krater, nicht über die österreichische Ortschaft, die – nachdem sie ein geradezu wallfahrtsmäßiges Interesse geweckt hatte – langsam wieder in jene Vergessenheit geriet, die auch dem englischen Dichter John Malcolm Furness anhaftete. Es blieb also dabei: Die Landkarten Österreichs verweigerten diesem Ort die Aufnahme. Und erst mit der umstrittenen Kardinalsernennung Marzells würde der Name Purbach wieder ins Gespräch kommen, wobei dann die meisten dachten, es handle sich um jenes in Atlanten durchaus aufscheinende Purbach am Neusiedler See.
Wie nun ein Buch über einen einzigen, in keiner Weise bedeutsamen Krater auszusehen hatte, darüber war sich Reisiger selbst nicht im klaren. Aber irgendeine Art von Buch sollte es eben werden, vielleicht so eine Art romanhaftes Sachbuch, was auch immer das zu bedeuten hatte. Jedenfalls vertiefte er sich in diesen Gedanken, während er die diversen Behandlungen geduldig ertrug und sich nach und nach mit seinem Rollstuhl anfreundete, einem nicht uneleganten Gefährt, dessen Räder und Sitzfläche einen sportiven Zuschnitt aufwiesen, während der motorradartige, mit einem Elektromotor betriebene Vorderteil mit seinem weit ausschwingenden Lenker, dem klumpenartigen Scheinwerfer und der langen, dünnen, glänzenden Gabel an eine Harley-Davidson erinnerte, eigentlich ein unsägliches Motorrad, das von einer Unmenge unsäglicher Menschen benutzt wird, die hinter einem Mythos herfahren, wie man einer Frau hinterherläuft, die man andauernd als Schlampe bezeichnet.
Reisiger allerdings nahm auch den Harley-Davidson-Bezug seiner ein- und aussetzbaren Rollstuhlfront gelassen hin. Wenn er Lust hatte und genügend Platz zur Verfügung stand, nutzte er die Möglichkeit des Kraftrads. Wenn nicht, ließ er das Vorderteil abhängen und bewegte sich allein mit der Kraft seiner zwischenzeitlich gesundeten Hände. Er war ein guter Patient, geschätzt, wenn auch nicht beliebt, dazu war er eine Spur zu fröhlich. Ärzte und Pfleger blieben auf Distanz, wie um sich nicht anzustecken. Reisiger stand im Geruch des Merkwürdigen und nicht wirklich Verstehbaren. Er stand auch gewissermaßen im Geruch Siem Bobecks, des Mannes, den die Welt suchte.
Die Zeit verging, und man entließ Reisiger ins Private. Dort empfing ihn Babett, noch immer entschlossen, ihren Mann auf dem Weg durch seinen Lebensrest zu begleiten. Der dann ja auch ihr Lebensrest sein würde. Sie war gleich alt wie er, aber um ein Wesentliches fitter und gesünder.
Niemand verstand Babett. Schon gar nicht ihre Cineasten- und Schwimmfreunde, die meinten, es müsse doch genügen, Leo hin und wieder … nun, es gab eigentlich nichts, was er nicht selbst hätte tun können, nachdem sein Haus rollstuhlgerecht umgebaut worden war. Wenn er Lust auf ein Rührei hatte, konnte er sich ein Rührei zubereiten. Wenn er in den Park wollte, ab in den Park. Vor allem aber die Mondbetrachtung gehörte zu den Dingen, die man im Sitzen bestens vornehmen konnte. Wozu also wollte sich Babett das antun?
Nun, Babett beschloß, daß es an der Zeit sei, gemeinsam eine Weltreise zu unternehmen, wie das alte Ehepaare so zu tun pflegten.
»Wir sind nicht alt, und wir sind kein Ehepaar«, beschwerte sich Leo.
»Natürlich sind wir alt, und natürlich sind wir ein Ehepaar«, erwiderte Babett. »Wir haben das nur eine ganze Weile verdrängt. Ich rede ja nicht von Liebe. Das muß nicht sein. Aber trotzdem gehören wir zusammen.«
»Was ist los mir dir? Eine Krise? Ich bin es doch, dem eine Krise zusteht.«
»Red keinen Stuß. Es geht allein darum, daß wir beide es redlich verdient haben, uns in aller Ruhe und Gemütlichkeit die Welt anzusehen.«
»Ich will die Welt nicht sehen«, sagte Leo. »In einem Rollstuhl ist die Welt immer die gleiche. Große Städte, Flughäfen, mitleidige Passanten, die einem den Vortritt lassen, behindertenfreundliche Museen. Wir werden wohl kaum in die Wüste fahren, Berge besteigen, den Strand entlanglaufen oder bewaffnete Freischärler besuchen.«
»Wie? Du würdest Freischärler besuchen, wenn du noch gehen könntest?«
»Wenn ich noch gehen könnte, würde ich zur Arbeit gehen.«
»Dr. Moll ist jederzeit bereit, dich wieder aufnehmen. Du warst es, der gekündigt hat.«
»Ja, natürlich. Für die PR braucht es keine gesunden Beine. Und dennoch. Es war an der Zeit, die Sache mit den
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