Der Umfang der Hoelle
durchaus vernünftiger Weise angelegt. Selbst der Einbruch des Aktienmarktes war mittels kluger oder auch nur intuitiv richtiger Maßnahmen so ziemlich spurlos an den Reisigers vorübergegangen. Ja, sie konnten sich eine Weltreise leisten, ohne danach in jenen Abgrund zu sinken, wie das bei der Familie Semper der Fall gewesen war.
Leo brauchte sich um rein gar nichts zu kümmern. Die ganze Organisation lag in den Händen seiner Frau, die nun mit demselben Ehrgeiz, mit dem sie bisher ihre Filmkritiken geschrieben hatte, daranging, die Zielorte auszusuchen, die Unterkünfte zu wählen, das wahrhaft Sehenswerte zu bestimmen und bei alldem natürlich den Umstand von Leos Handikap zu berücksichtigen. Babett legte ein feines Netz über die Welt und nannte es »Koordinatensystem einer Ehe«.
»Ich glaube, Babett«, meinte Leo Reisiger, »du leidest unter einem Wahn. Einem Ehewahn.«
»Du gewöhnst dich noch daran«, prophezeite Babett.
Dann ging’s los. Man startete in Frankfurt, das bei aller Urbanität etwas von einem Ende der Welt hat, und man also aus dem Nichts in das Etwas flog. Dieses Etwas war zunächst einmal Rom, eine Stadt, in der sich Reisiger noch nie wohl gefühlt hatte. In diesem Punkt war er Marzellianer. Er empfand dieses ganze Italien als eine falsch zusammengefügte Amphore, bei deren Instandsetzung man zu allem Überfluß auch noch grellfarbene Klebebänder benutzt hatte.
Er war froh, als man Rom verließ. Wobei er ohnehin den Verdacht hegte, daß die Schönheit des Reisens darin bestand, einen Ort zu verlassen und in einem neuen noch nicht angekommen zu sein.
Wenn nun Italien als unkorrekt zusammengefügte Amphore dastand, dann war Griechenland der Scherbenhaufen, den man gar nicht erst versucht hatte, in seinen ursprünglichen Zustand zu versetzen. Und das war nun mit Abstand der sympathischere Weg. Jedenfalls begann Leo Reisiger sich in Thessaloniki ein wenig besser zu fühlen. Er sprach dem Wein zu, auch wenn niemand behaupten wird, der griechische Wein sei eine Erfüllung. Aber darum ging es ja auch nicht. Reisiger wurde zum Trinker, zu einem wirklichen, was also bedeutete, daß sein Frühstück nach einem ersten Kaffee aus einem ersten Glas Gin bestand. Wobei die Sache mit dem Gin und überhaupt mit der ganzen Trinkerei ein wenig auch damit zusammenhing, daß Reisiger zu lesen begonnen hatte.
Es gibt ja genug Leute, die Bücher für etwas Gefährliches halten und dringend davon abraten. Nicht wegen politischer Verführung, daran glaubt schon lange niemand mehr. Nein, wegen der Verführung hin zu irgendwelchen Unarten, Phobien, Verhaltensweisen, Eigentümlichkeiten. Verführung zum Snobismus. Und das Trinken, das echte, das hingebungsvolle und körperzerfressende, ist nun wahrlich eine Art von Snobismus. Ein Snob, das ist etwas anderes. Darüber man muß nicht reden. Aber ein Trinker lebt seinen Snobismus mit jedem Schluck. Ganz gleich, ob eine Verzweiflung dahintersteckt oder nicht. Und es ist ein großer Fehler zu glauben, und die meisten glaubten es, Leo Reisiger hätte wegen seiner Querschnittslähmung mit dem Saufen angefangen.
Das Buch war es, das ihn animiert hatte: Malcolm Lowrys famos unlesbares Unter dem Vulkan . Nur ein unlesbares Buch war für Reisiger auch ein gutes.
Leo Reisiger fühlte sich derart hingerissen von der Figur des Konsuls, von der Schönheit und Würde eines Trinkers, daß er im Frühstücksraum seines Hotels in Thessaloniki sitzend, seinen Kaffee austrank, das Essen zur Seite schob, als handle es sich um eine mit Blumen gefüllte Vase und sich einen Gin bestellte. Man sah ihn an, als verlange er, einen lebenden Oktopus zu verspeisen. Es war ihm gleichgültig. Er spürte die angenehme Wärme, die allein in dieser Bestellung bestand. Er sah seine Zukunft vor sich, ähnlich wie auch Marzell sie gesehen hatte. Natürlich war die Aussicht auf einen Kardinalstitel rosiger zu nennen als die, ein Trinker zu werden. Aber die Wärme war da. Und die Zukunft besaß einen Schimmer, der ihm … nun, der ihm ziemlich himmlisch erschien.
Die Bestellung ausgerechnet von Gin, mit dem Reisiger bis dato wenig vertraut gewesen war, hing natürlich mit Malcolm Lowrys Vorliebe für dieses Getränk zusammen. Das war ein wenig lächerlich, aber es brauchte ja niemand zu erfahren.
Babett war wenig begeistert. Ihr Vater war am Alkohol zugrunde gegangen, und einige ihrer Freunde hatten sich im Zuge massiver Trinkerei zu kleinen oder großen Arschlöchern entwickelt. Allerdings bemerkte
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