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Der Umfang der Hoelle

Der Umfang der Hoelle

Titel: Der Umfang der Hoelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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sie auch, daß Leo sich von Exzessen zurückhielt, selten zu lallen begann und auch niemals unhöflich wurde. Er benahm sich in keinem Moment daneben. War er zu müde und zu berauscht, um etwa den Ausführungen von Tischnachbarn zu folgen, so empfahl er sich. Ein Querschnittsgelähmter konnte sich in einem jeden Moment zurückziehen, ohne beleidigend zu wirken. In solchen Situationen suchte Reisiger meistens eine kleine Bar auf, wo man die Freundlichkeit besaß, ihn über irgendwelche Stufen zu heben, und auch nicht meinte, die Atmosphäre des Raums leide unter seiner Anwesenheit.
    Für Leo ergab sich der Sinn des Trinkens weniger dadurch, große Mengen in kurzer Zeit hinunterzustürzen und einen Zustand der Benommenheit zu erklimmen (als klettere man gipfelwärts auf einen auf dem Kopf stehenden Berg), sondern einfach darin, nie wirklich nüchtern zu sein. Diese mengenmäßige Beschränkung, die Art, wie er die Drinks gleich einem herzkranken Langstreckenläufer geordnet über den Tag verteilte, wurde ihm als Vernunft ausgelegt. Tatsächlich steckte dahinter aber seine große Achtung vor dem Autor des Vulkans .
    Leo hätte niemals gewagt, Malcolm Lowrys alkophile Radikalität zu versuchen. Das wäre ihm ungehörig erschienen, vergleichbar einem Menschen, der in vielen Jahren bloß ein paar Seiten zu Papier gebracht hat, aber überall herumerzählt, soeben einen gigantischen Roman vollenden zu wollen. Reisiger selbst hatte von seinem Purbach-Buch noch keine einzige Zeile notiert. Das hatte jetzt zwar nichts mit dem Trinken zu tun, aber das Maß, mit dem er nie ganz nüchtern blieb, aber auch nie einem Absturz nahe war, entsprach der Zurückhaltung, mit der man an einem Buch arbeitet, an dem man gar nicht schreibt.
    Solcherart bewegte er sich über den Planeten, und zwar mit größer werdender Lust. Wobei diese Lust wenig mit den verschiedenen Sehenswürdigkeiten zu tun hatte. Es gab nichts, was ihn mehr beeindruckt hätte als etwas anderes. Über allem stand, zur rechten Zeit betrachtet, der Mond, im Idealfall einen Zustand aufweisend, der einen Blick auf die Purbachsche Wallebene zuließ.
    Obgleich weiterhin ein Anhänger technikfreier Mondbetrachtung, hatte sich Leo dennoch ein transportables Teleskop zugelegt und saß an vielen Abenden und in vielen Nächten auf irgendwelchen Hotelbalkons oder nahen Erhebungen, um nach Stunden der Beobachtung mit freiem Auge auch einen Blick durch das Linsensystem zu werfen. Dabei geschah es, daß er – im türkischen Gaziantop, nahe der syrischen Grenze – das Glück hatte, genau in dem Moment auf Purbach zu blicken, als sich ein Meteorit in die sandige Landschaft bohrte. Was Reisiger auf merkwürdige Weise bedrückte, ein bißchen wie man in eine Stadt seiner Kindheit fährt, um festzustellen, daß sich alles verändert hat, die kleine Eisdiele verschwunden ist, auf dem Fußballplatz ein Einkaufszentrum steht, die hübschen Mädchen von damals mit immens breiten Hintern durch die Gegend wackeln.
    Keinesfalls wäre Reisiger jetzt auf die Idee gekommen, einer von den astronomischen Gesellschaften von seiner Beobachtung zu berichten. Statt dessen fuhr er hinunter in die Lobby, wo Babett mit ein paar Geschäftsleuten zusammensaß – Waffenhändler, wie Leo meinte, weil sie gar so adrett und gebildet wirkten –, und genehmigte sich einen Drink, der außerhalb seines Rhythmus stand. Leo mußte jetzt an das andere, das österreichische Purbach, das Purbach im Garstner Tal denken und stellte sich vor, daß auch dort – im Rahmen eines naturgesetzlichen Gleichlaufs – ein Meteorit niedergegangen war, hinein in Bobecks Tannenwald, genau die Stelle treffend, an der einst eine Sternwarte gestanden hatte.
    Mit einem Mal drängte es Reisiger, Pfarrer Marzell anzurufen. Eine verrückte Idee, aber er tat es. Er nahm ein paar bedächtige Schlucke von seinem Gin, zündete sich eine Zigarette an und ließ sich von einem Angestellten in die Telefonkabine helfen, ein Häuschen, eine Hundehütte von Telefonzelle. Er stellte das Glas zwischen seine toten Beine, nahm den Hörer und wählte die Nummer, die ihm Marzell in einem Anfall von Verbundenheit gegeben hatte.
    »Hier ist Reisiger«, sagte Leo, als er die Stimme des Geistlichen vernahm.
    »Das gibt es ja nicht«, schien Marzell erfreut, »Sie müssen wohl über einen sechsten Sinn verfügen.«
    »Was? Sagen Sie jetzt bloß … ein Meteorit … auf ein Purbach ist ein Meteorit gestürzt.«
    »Wie kommen Sie denn auf so was?«
    »Also

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