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Der Umfang der Hoelle

Der Umfang der Hoelle

Titel: Der Umfang der Hoelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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natürlich in der Regel untersagt war, daß Passagiere ihren mitgebrachten Alkohol tranken. Aber erstens flogen die Reisigers erste Klasse, soweit das möglich war, und zweitens scheuten sich die Flugbegleiter, einem Querschnittsgelähmten zu sagen, was sich gehöre und was nicht. Man ließ ihn in Frieden, umso mehr, als er niemals randalierte oder sich auch nur unhöflich verhielt. Von der Unhöflichkeit abgesehen, bloß krümelgroße Mengen der servierten Speisen zu sich zu nehmen.
    »Du ißt wie ein Spatz«, sagte Babett, die auf dieser Reise einen immer größer werdenden Appetit entwickelte und nach und nach ihre perfekte Badefigur der Freßlust opferte.
    »Ich bin wie ein Spatz«, erklärte Reisiger.
    »Spatzen trinken keinen Alkohol.«
    »Was weißt du denn?«
    Nachdem sie den arabischen Raum absolviert hatten, gleich Zwergen, die durch ein heißes, leeres Backrohr marschieren, wechselten sie hinüber auf den afrikanischen Kontinent, wo man gewissermaßen den Freischälern auswich, jedoch etwas unternahm, was Reisiger im Vorfeld dieser Reise für unmöglich erachtet hatte: eine Reise durch die Wüste. Es ist nicht wichtig zu sagen, um welche Wüste es sich handelte. Wichtig allein war die Möglichkeit, einen Mond zu betrachten, der in der ungewohnt klaren Luft wie ein naher Freund stand. Vor allem war Reisiger damit beschäftigt, jene Stelle der Purbachschen Wallebene zu lokalisieren, in die der Meteorit sich gebohrt hatte. Und glaubte tatsächlich, den Punkt zu erkennen, auch wenn dies höchstwahrscheinlich auf einer Einbildung beruhte. Jedenfalls gab er dem Meteoriten eine Bezeichnung, die sich aus jenen sechs Ziffern zusammensetzte, mittels derer er einen Jackpot geknackt hatte. (Für alle, die es wissen wollen, oder auch nur Lust verspüren, den Teufel herauszufordern: 6, 19, 25, 38, 42, 47 – viel Glück!)
    Nach zwei Monaten erreichten die beiden Weltreisenden die Südspitze Afrikas und kamen auf dem Tafelberg zu stehen, wobei sie noch immer so weit bei Verstand waren – auch Reisiger, Gin hin oder her –, bei ihrem Blick auf Kapstadt keineswegs zu meinen, Zell am See würde zu ihren Füßen liegen. Alles war im Lot. Kein Schlund tat sich auf. Die Welt schien ruhig und selbstzufrieden. Selbst das Wetter war ein kleines Geschenk, das man täglich in den Fensterrahmen gestellt bekam. Die Reisigers mußten schon in der Zeitung nachsehen (Babett las laut vor, und Leo tat freundlich, als höre er zu), um festzustellen, daß die Wirklichkeit auch eine andere sein konnte. Man sich etwa vorvorgestern noch in einem Land befunden hatte, in dem vorgestern ein Bürgerkrieg losgebrochen war. Oder daß eine Gegend von schweren Stürmen heimgesucht wurde, in der man vor kurzem bei Sonnenschein und milder Brise am Strand gesessen hatte. Indien ließ man aus, wie man eine Mahlzeit ausläßt, um sich nicht den Magen zu verderben. Oder auch nur – kleiner Selbstbetrug – etwas gegen seinen Bauch zu tun. Nepal aber sah man sich an, ja, man kletterte sogar auf einen Berg, so weit es mit dem Geländewagen ging, und es ging erstaunlich weit. Weit genug, um dünne Luft wie aus einem Strohhalm zu atmen und in den Wolken zu stehen. In einer solchen Wolke gefangen, legte Babett zum ersten Mal nach langer, langer Zeit ihre Hand auf die ihres Mannes und sagte, sie sei glücklich. Er war verwirrt, sehnte sich nach einem Schluck aus seiner Flasche, die gegen seine Hüfte drückte. Aber es hätte sich natürlich nicht gehört, jetzt einen Drink zu nehmen. Wie ein höflicher Automat sagte er: »Ich auch.«
    Die Länder und Orte kamen und gingen. Für Reisiger, der ja – die Zeit in Hotelbetten ausgenommen – so gut wie immer in seinem Rollstuhl saß, war es, als zöge die Welt unter seinen Rädern hinweg, als bewege sich allein der Planet. Die Landschaft war ein Teppich auf Rollen.
    Ein halbes Jahr nachdem sie ihre Reise angetreten hatten, erreichten sie Australien, wo sie ihren Sohn besuchten. Es freute Leo zu sehen, wie beliebt Robert war, wie sehr er in seiner bescheidenen Art die Leute für sich einnahm, selbst noch die Bescheidenheit dosierend, um auch da nicht zu übertreiben. Gewissermaßen waren es allein die Pferde, die Robert zu beeindrucken versuchte, riesige Tiere, die Leo mit Argwohn betrachtete, fiebrige Wesen, wütende Erzengel, rasant auch im Zustand der Ruhe. Immerhin war es nett anzusehen, wie gut sich Robert auf diesen Ungetümen machte, ohne sie eigentlich zu kontrollieren. Mehr darum bemüht, das Tier nicht

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