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Der Umfang der Hoelle

Der Umfang der Hoelle

Titel: Der Umfang der Hoelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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zusammen mit Mrs. Lichfield an der Reling stehen. Beide Frauen winkten. Selbst auf die Entfernung konnte er sehen, oder meinte eben zu erkennen, daß Babetts Winken die wächserne Steifheit von etwas besaß, was man gegen seinen Willen unternimmt. Wahrscheinlich winkte sie nur, weil Mrs. Lichfield es tat.

Lücken gibt es immer
    Der Hubschrauber drehte von der Hyperion ab und schoß hinaus in den kaltgrauen Himmel, aus dem einzelne weiße Wolkenränder wie Schimmel aus einer Wand quollen. Das Meer wirkte nun glatt und hart und unbewegt, eine Piste. Das änderte sich, als Minuten später die anwachsende Gestalt der Bohrinsel zu erkennen war und damit einhergehend auch das Meer wieder einen heftig bewegten Eindruck machte.
    » Barbara’s Island «, schrie Lichfield.
    »Wo?« schrie Reisiger zurück, der glaubte, Lichfield meine eine wirkliche Insel. Aber wirkliche Inseln gab es hier nicht.
    »Die Bohrinsel«, erklärte Lichfield. »Sie heißt so. Ich habe sie nach einer Jugendliebe benannt.«
    »Nette Geste. Weiß Ihre Frau davon?«
    »Das war natürlich vor ihrer Zeit. Daß ich diese Plattform so getauft habe, davon hat – da bin ich mir sicher – nicht einmal Barbara selbst je erfahren. Während hingegen die Leute, die dort arbeiten, aus gutem Grund glauben, die heilige Barbara sei gemeint, die Schutzpatronin der Bergleute. Die Nothelferin, zu der man betet, wenn ein Sturm aufzieht, einer, der das übliche Maß übersteigt. Nicht, daß Gebete nötig wären. Die Insel ist unsinkbar. Fest verankert.«
    »Das hat man von diesem Schiff, das da gleich in der Nähe liegen soll, auch behauptet.«
    » Barbara’s Island steht seit elf Jahren. Ich sagte es schon: So lange wie diese Plastikenten durch die Meere treiben. Es hat nie auch nur den Ansatz einer Schwierigkeit gegeben, im schlimmsten Sturm nicht. Und an schlimmen Stürmen ist die Gegend hier reich. Ein Revier zum Fischen, aber keines zum Angeln, wenn Sie verstehen, was ich meine.«
    Tatsächlich entsprach Barbara’s Island nicht dem Bild, das Reisiger von Bohrinseln besaß. Die ganze Konstruktion mutete utopisch an, als liege sie nicht ein paar hundert Kilometer östlich von Neufundland, sondern im Meer eines allein von Meeren überschwemmten fernen Planeten. Um die zentrale Plattform herum, von der vier hülsenförmige Türme aufragten, war ein mächtiger, nach außen hin zahniger Betonring ausgelegt, welcher frei zu schwimmen schien. Jedenfalls war keine Verbindung zum Hauptgebäude zu erkennen. Wenn man denn von einem Gebäude sprechen durfte, als handle es sich um die Villa eines größenwahnsinnigen Meeresbiologen.
    Reisiger dachte unweigerlich an die Figur des Karl Stromberg, welcher von Curd Jürgens mit selbstverliebter Getragenheit interpretiert worden war. Eine Getragenheit, die suggeriert hatte, daß die Welt über und unter dem Wasser auch nichts anderes sei als ein Wiener Burgtheater.
    Gemäß Lichfields gebrüllter Erläuterung stellte dieser geschlossene Betonring die Eiswand dar. Welche auch vonnöten war. Denn der Vorteil einer Bohrinsel, die mit dem Meeresboden fest verbunden war und solcherart nicht kippen konnte, während schwimmende Plattformen dies immer wieder taten, dieser Vorteil zog unweigerlich den Nachteil nach sich, unbeweglich zu sein. Definitiv. Denn so weit fortgeschritten, so tief in der Utopie und der Zukunft steckte diese Konstruktion nun doch wieder nicht, daß man sie im Notfall von der Verankerung hätte lösen können. Was bedeutete, daß es unmöglich gewesen wäre, eventuell sich nähernden Eisbergen auszuweichen. Darum diese ringförmige Eiswand, die man ebenfalls fix im Boden installiert hatte und welche die Attacke eines sechs Millionen Tonnen schweren Eisberges hätte überstehen können. Ein Ereignis, das nach den Berechnungen der Statistiker nur alle zehntausend Jahre in Frage kam.
    Aber was hieß das eigentlich, fragte sich Reisiger, der als gläubiger Mensch wenig von Statistiken hielt. Was nützte denn die immense Spanne von zehntausend Jahren, wenn diese zehntausend Jahre vielleicht gerade heute zu Ende gingen? Und was war, wenn dieser Eisberg dann nicht bloß sechs Millionen, sondern sechseinhalb Millionen Tonnen wog? Welche Toleranz war noch denkbar? Wann war der Punkt erreicht, da jedes Gramm, jedes Grämmchen ein Grämmchen zuviel war?
    Der Punkt existierte, natürlich tat er das. Darum ja Katastrophen. Und der, der in einer solchen Katastrophe wie ein Wurm im falschen, weil gepflückten Apfel saß, für den

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