Der Umfang der Hoelle
Ich will Ihnen nicht einmal sagen, welche Art von Krebs. Es ist ja auch gleichgültig. Jedenfalls besteht keine Chance auf Heilung. Es besteht alleine die Chance, der Banalität auszuweichen. Niemand außer meinem Arzt weiß von der Erkrankung. Tja, und Sie wissen es jetzt. Das ist gut so. Ich vertraue Ihnen.«
»Nach nur einem Tag.«
»Es gibt nichts, was man nach einem Tag nicht wüßte. Zumindest nichts Wichtiges.«
»Was haben Sie vor, Mr. Lichfield?
»Ich werde ins Meer springen. Ein Unfall. Und Sie werden diesen Unfall als solchen bezeugen können. Bedenken Sie, wie schön das klingt, daß einer eine Bohrinsel baut, um dann auf ihr ums Leben zu kommen. Ich hatte diese Idee erst kurz vor meiner Abreise. Es ist mir, Gott weiß warum, nun mal wichtig, nicht wie ein Stück Fleisch auf einem noch so luxuriösen Sterbebett zu landen.«
»Sie verlangen hoffentlich nicht von mir, daß ich Sie hinunterstoße.«
»Selbstverständlich nein. Ich besitze durchaus die Größe, einen derart kleinen Schritt selbst vorzunehmen. Es wird auch nicht nötig sein, zu ertrinken. Bei dieser Höhe schlägt man auf wie auf Beton. Wir sind nicht im Kino, wir sind in der Wirklichkeit.«
»Ich müßte Ihnen das jetzt ausreden.«
»Werden Sie aber nicht tun«, zeigte sich Lichfield überzeugt. »Das weiß ich. Darum sind Sie hier bei mir, wenngleich ich natürlich gestehe, daß es eine Zumutung ist. Aber ich will das so. Ich will, daß später von einem Unfall die Rede ist, tragisch, aber auch irgendwie passend. Und nicht von einem Selbstmord. Darin bestand mein Problem. Bis gestern. Bis ich Sie kennenlernte.«
»Nicht Ihr Ernst«, staunte Reisiger.
»Oh doch. Denn als Sie an unseren Tisch kamen, dank eines lächerlichen Irrtums, ist mir rasch klar geworden, daß Sie der Mann sind, der mir helfen wird.«
»Und jetzt soll ich mich geehrt fühlen?«
»Sie sind mir nichts schuldig. Ich kann Sie nicht zwingen.«
»Was soll ich tun?« fragte Reisiger. »Nach dem Kapitän rufen, damit er Ihnen Ketten anlegt, um Sie vor sich selbst zu schützen?«
»Sie könnten sich weigern, einen Unfall zu bezeugen.«
»Würde das an Ihrem Entschluß etwas ändern?«
»Nein«, sagte der Multimillionär als Todkranker. »Es gibt jetzt kein Zurück. Ich bin fest entschlossen. Und ich bin ruhig. Es hat etwas Befreiendes, eigenhändig Schluß zu machen. Ich bitte Sie allein um einen Gefallen, der Sie nichts kostet. Eine Lüge, mit der Sie besser leben werden als mit der Wahrheit.«
»Sie hätten mir das noch auf dem Schiff sagen müssen.«
»Ich war nicht fair, das stimmt. Aber in meiner Situation pfeift man auf die Fairneß. Auf die ich im übrigen mein ganzes Leben lang nichts gegeben habe. Ich behaupte sicher nicht, Sie würden einem guten Menschen helfen.«
»Stopp! Lassen wir das Gerede«, meinte Reisiger verärgert. Gleichzeitig dachte er, daß es sich nicht gehörte, einen Mann, den wohl nicht nur kalte Berechnung, sondern auch eine tiefe Verzweiflung an diesen Ort getrieben hatte, derart hart anzugehen. Den Ton mildernd, sprach er: »Also. Ich tue, was Sie verlangen. Ich werde von einem Unfall sprechen. Nur sollten Sie mich auch genau instruieren. Am Ende verwickle ich mich noch in Widersprüche und stehe plötzlich als Ihr Mörder da. Das wäre mit einfach zuviel des Guten.«
»Keine Angst. Barbara’s Island ist zwar so gebaut worden, daß derartige Unfälle weitgehend ausgeschlossen werden können. Aber ich kenne natürlich die kleinen Lücken. Lücken gibt es immer.«
Es war ein merkwürdiges und beklemmendes Gefühl, daß Reisiger nun von einem Mann angeschoben wurde, der schon sehr bald nicht mehr am Leben sein würde. Nicht, daß Reisiger die vielzitierte Kühle des Todes spürte. Eher eine Hitze. Eine Hitze, als stünde da schon ein Geist. Ein Mann aus strahlenden Teilchen. Ein Quasar von einem Menschen.
Nachdem man weitere Hallen durchquert hatte, gelangten Reisiger und Lichfield in einen menschenleeren, enger werdenden Gang, der an einer Türe endete, die mit der Aufschrift versehen war, nur Berechtigten den Zutritt zu gewähren.
Nun, die Türe war unverschlossen. Auch bestimmte Lichfield: »Ich bin berechtigt.«
Als er sie öffnete und einen Schwall von Tageslicht und heftig bewegter Luft einließ, meinte Reisiger: »Sollte eine solche Türe nicht versperrt sein?«
»Auf einer Bohrinsel sind es eher die versperrten Türen, die ein Risiko bergen«, erklärte Lichfield und schob Reisiger nach draußen. Man geriet auf eine
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