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Der Umfang der Hoelle

Der Umfang der Hoelle

Titel: Der Umfang der Hoelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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betrieb, auch ein gewisses Ungeschick zum Zuge kam, indem er mit dem Daumenballen seiner linken Hand an die Schneide des Messers geriet und sich einen tiefen Schnitt zuzog. Er spürte deutlich, wie die Haut und das Fleisch sich öffneten. Als klappe ein Maul auf. Man könnte natürlich auch sagen: als werde ein drittes oder viertes Auge aufgeschlagen. Entgeistert betrachtete Reisiger die Wunde, aus der das Blut wie eine Reihe kleiner Zierfische schwappte. Sogleich aber fing er sich, schob das Ärmelende seines Mantels über die Wunde und sagte: »Das hätte in jeder besseren Küche auch passieren können.«
    Was immer er damit meinte, es tat ihm gut, etwas Derartiges gesagt zu haben. Vielleicht, weil er begriffen hatte, daß es in der Auseinandersetzung mit diesen fünf herzkranken Jungs wichtig war, etwas von sich zu geben, was die andere Seite verwirrte. Diese Träger wulstiger Lederjacken also mit Wörtern und Sätzen einzudecken, die ihnen zu schaffen machten, nicht weniger als ein Faustschlag. Eher mehr.
    Obgleich Leo Reisiger eigentlich vorgehabt hatte, sich verletzen zu lassen – und tatsächlich verfügte er über eine erste Verletzung, wenn auch aus eigener Schuld –, so widerstrebte es ihm trotzdem, ein Opferlamm abzugeben. Nicht anstelle von zwei Frauen in Anoraks, die ihm persönlich unbekannt waren. Er wollte sich wehren. Er wollte aus dieser Sache etwas machen. Etwas Besonderes.
    Zunächst einmal aber unternahm er das Naheliegende, indem er mit seiner rechten, der unverletzten Hand, dem Dorftrottel einen Stoß gegen die Brust versetzte. Einen leichten bloß. Genaugenommen legte Reisiger seine Hand auf den Brustkorb des nun Messerlosen und trommelte mit den Fingern ein wenig dagegen. Man konnte diese Handlung auch als eine spöttische Paraphrase auf jene vormalige Berührung eines Frauenbusens verstehen. Es war jetzt also der Dorftrottel, welcher gemelkt wurde. Jedenfalls schreckte diese Vorgangsweise den jungen Mann derart, daß er hektisch zurückwich, über die eigenen Beine stolperte und hart mit dem Rücken auf dem Boden aufprallte. Gleichzeitig trat Reisiger zur Seite, beugte sich zu dem verwaisten Messer und hob es auf. Und zwar an zwei Fingern, wie Kriminalisten das zu tun pflegen oder wie man mitunter einen verdreckten Gegenstand berührt. Reisiger hielt die Klinge in Augenhöhe und meinte: »Ich glaube nicht, daß man mit so einem Messer zwei Augen schnitzen kann, vielleicht einen kleinen Mund, einen Mund ohne Zunge und ohne Zähne, aber keine schönen Augen.«
    »Von schön war nie die Rede«, sagte die Plattnase, als handle es sich um einen ernsthaften Diskurs.
    »Ach nicht?« sagte Reisiger mit gespieltem Erstaunen. »Na dann.«
    Er packte jetzt das Messer voll am Griff, streckte seinen Arm aus, stellte die Klinge schräg und zeichnete mit der Messerspitze zwei kleine imaginäre Formen in die Luft, dabei sprach er über die Augenform der Japaner, die soviel edler anmute als die der europäischen Rasse. Nicht, daß den europäischen Augen der Eindruck von Tiefe fehle. Nein, sie würden aus viel zuviel Tiefe bestehen. Bodenloser Tiefe, was dann wiederum gemein und einfältig anmute. Das japanische Auge hingegen vermittle eine Tiefe, die immer auch die Existenz eines Grundes andeute.
    Während er da herumphilosophierte, stichelte Reisiger wild in der Luft herum. Es war eindeutig, daß er mit dieser ungestümen Messersprache europäische Augen meinte. 
    Bei alldem betrachteten ihn die vier Jungs, die noch standen, sowie der eine, der auf dem Boden lag, mit deutlichem Unbehagen. Sie dachten wohl, es mit einem Wahnsinnigen zu tun zu haben. Und zwar mit einem wirklichen. Denn die Wahnsinnigen, an die sie üblicherweise gerieten, waren ihnen ja verwandt, Halbstarke wie sie selbst, Leute mit Baseballschlägern, die diese oder jene Religion vertraten, mit Gaspistolen und Schreckschußpistolen und Leuchtpistolen und genagelten Schuhen und Bleikugeln in den ledernen Laschen ihrer Schleudern. Bleikugeln, mit denen man nicht nur die Spatzen von den Dächern holte. Wie gesagt, es waren Herzkranke, die viel häufiger, als das allgemein bekannt ist, in die Kirche gingen, um Kerzen anzuzünden. Auch für die Spatzen, auch für die Typen, denen sie die Zähne ausschlugen. Hooligans waren in Wirklichkeit Fromme, unter ihnen auch ein paar Heilige, die in einem symbolischen wie tatsächlichen Sinn das Böse in der Welt auf sich nahmen. Zumindest Teile dieses Bösen, auf daß nicht noch mehr an Schrecklichem

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