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Der Umfang der Hoelle

Der Umfang der Hoelle

Titel: Der Umfang der Hoelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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jetzt Schulter an Schulter mit dem Plattnasigen, hätte entweder seinen rechten Ellbogen in die Niere des anderen drücken oder mit einem weit auszuholenden Haken seiner verletzten Linken versuchen können, einen Schlag in der oberen Körperhälfte des Gegners unterzubringen. Zwischen diesen Möglichkeiten stehend, zögerte Reisiger, auch überfordert von seiner eigenen Kühnheit und der extremen Gymnastik. Ja, eine plötzliche Müdigkeit, in der Art wie sie einen Grippekranken ereilt, überkam Reisiger. Er tat also gar nichts, stand da, beinahe lehnte er sich gegen die Schulter des anderen.
    Dieser zeigte sich um einiges entschlußfreudiger, legte seinen freien Arm um Reisiger, zog ihn wie den allerbesten Freund an sich und beförderte ihn mittels eines Hüftwurfs zu Boden. Der Wurf war weder sauber noch elegant gewesen, hatte etwas Lasches besessen. Zwei Welpen, die sich balgen. Was nichts daran änderte, daß Reisiger einen unrunden Bogen durch die Luft beschrieb, ungebremst mit der Schulter aufschlug, viel Luft und die Hälfte eines Schreis ausstieß, zur Seite fiel und auf dem Rücken zum Liegen kam, wo ihm dann der Rest des Schreis entfuhr.
    Es war nun aber die Kälte des Bodens, die ihm in höchster Weise unangenehm war, weniger der Umstand, in eine aussichtslose Position geraten zu sein. Darum war er ja hier, um jetzt endlich seine Strafe zu empfangen. Welche nun zunächst einmal darin bestand, daß der Plattnasige sich mit seinem Hintern auf Reisigers Brustkorb niederließ und mit seinen beiden Knien – ohne daß dies eigentlich noch nötig gewesen wäre – die Arme des Unterlegenen fixierte. Mit seiner freien Hand packte er Reisigers Unterkiefer und drückte ihn nach oben, sodaß es Reisiger also unmöglich wurde, seinen Mund zu öffnen. Offensichtlich war dem Plattnasigen sehr daran gelegen, seinem Kontrahenten die Möglichkeit zu nehmen, weiterhin mit Worten und komischen Theorien um sich zu werfen und die gemeinschaftliche Ordnung der Hooligans ins Wanken zu bringen. Tatsächlich wirkten die anderen Jungs geradezu erleichtert ob der Anbringung einer Mundsperre und traten ein paar Schritte heran, als seien sie die ersten Menschen, zumindest die ersten Europäer, die nun ein exotisches und gefährliches, aber endlich erlegtes Tier betrachten durften. Auch der Dorftrottel erhob sich, um näher zu kommen. Sein Messer aber vergaß er.
    »Japanisch, also«, sagte der Plattnasige und entließ einen Ton, als sauge er die Luft durch einen Strohhalm. Es sollte wohl süffisant klingen. Und weiter an Reisiger gerichtet meinte er: »Ach je, alter Fetischist, bestehst du darauf, daß ich dir die Glötzlein eines Japsen verpasse. Das gibt aber ’n ganz schönen Widerspruch in deinem Arschgesicht.«
    Soweit Reisiger dazu in der Lage war, zuckte er mit seiner Schulter. Wohl um zu bekunden, daß ein jeder Mensch mit Widersprüchen zu leben habe. Allerdings glaubte er nicht wirklich daran, daß der Plattnasige ihm das Gesicht zerschneiden würde. Er hielt diesen Kerl für seelisch zerrüttet, aber nicht für pervers. Und sein bürgerlicher Erfahrungsschatz sagte Reisiger, daß man pervers sein mußte, um eine Schneide über ein Gesicht zu ziehen oder gar Löcher zu bohren. Den Begriff des Perversen näher zu definieren, wäre Reisiger freilich nicht in der Lage gewesen. Die Perversion war für ihn keine soziale Erscheinung, sondern eine Erscheinung der Natur, eben einer atypischen Randzone von Natur, wo sich alles Gelungene in sein Gegenteil verkehrte.
    Wie aber, dachte sich Reisiger eigentlich, sollte seine Strafe denn aussehen? Sollte sie allein darin bestehen, daß ein widerlicher Mensch auf seiner Brust saß, sein Kinn festhielt und seine Arme niederdrückte? Sollte diese Strafe vielleicht in der Kälte des Bodens bestehen, die durch Mantel, Anzug und Unterwäsche wie durch ein luftiges Netzleibchen drang?
    Der Plattnasige jedenfalls führte jetzt die Klinge an Reisigers Gesicht heran und setzte sie auf die Wange unterhalb des linken Jochbeins an. Reisiger spürte den Druck der Messerspitze auf einem seiner Backenzähne, als wollte eine außerordentliche Mücke einen außerordentlichen Saugrüssel einführen. Oder als wollte man ein kleines Kirchentor – denn genau eine solche Form besaß die Messerspitze – in seine Mundhöhle stülpen. Gegen die Fixierung des Kiefers ankämpfend, bemühte sich Reisiger, die Zahnreihen auseinanderzudrücken, um eine Lücke zu schaffen, in die das Messer wie in ein Vakuum

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