Der Umfang der Hoelle
zu geschehen brauchte. Aber genau darum, weil alles, was sie taten, eine kompensative Kraft besaß, lebten sie stark in Ritualen. Sie zogen durch die Länder wie kleine Armeen, gescholten und verdammt, Aussätzige, die für jedermann das Bild des Asozialen verkörperten. Und die auch noch gezwungen waren, anstatt gegen einen wirklichen Gegner zu bestehen, sich vornehmlich untereinander zu bekriegen. Anders hätte eine Kompensation des Bösen gar nicht funktioniert. Während hingegen die Kämpfe, die man mit der Polizei und Ordnungskräften ausfocht, bloß eine Überwindung belebter Barrikaden darstellte, nicht viel anders, als hätte man eine landschaftliche Hürde nehmen müssen, einen Fluß oder den Paß eines unwirtlichen Gebirges.
Freilich mißachteten auch Hooligans hin und wieder die eigenen Regeln und Gepflogenheiten, verließen die Welt ihrer Bräuche und Konventionen. Dazu gehörte mit Sicherheit, sich an einem eiskalten Wintermorgen in die Fußgängerzone eines namhaften Nobelortes zu begeben, um zwei Frauen zu belästigen und diese in jeder Hinsicht zu verletzen. Ohne daß irgendein echtes Ritual zur Anwendung gekommen wäre. Außer jenem echter Betrunkenheit. Damit war absolut nichts zu kompensieren, kein Gott und kein Teufel milde zu stimmen. Ganz im Gegenteil. Mag sein, daß diese fünf Jungs genau das intuitiv begriffen hatten, weshalb ihnen das Auftauchen Reisigers wie eine Strafe erscheinen mußte (was dann eine Verdoppelung des Gedankens an Strafe bedeutet hätte). Jedenfalls scheuten sie sich, mit der ihnen gewohnten Brutalität vorzugehen. Ihnen fehlte im Augenblick jener kollektive Habitus, der nötig war, um zu fünft oder auch nur zu viert einen einzelnen Mann zu überwältigen und in der gewohnten Manier niederzuschlagen, auf ihn einzutreten, bis er sich nicht mehr rühren konnte. Statt dessen war ein jeder mit sich selbst beschäftigt, auch mit dem Gedanken an Verteidigung. Sodaß also Reisiger in aller Ruhe mehrere europidisch schlundige Augenpaare in die Luft zeichnen konnte. Als das geschehen war, drängte er: »Es wird Zeit, Leute. Auch hier gibt’s eine Polizei, die irgendwann aufwacht.«
»Ja«, sagte die Plattnase und gab den anderen ein Zeichen. Und zwar eines, das bedeuten sollte, endlich daranzugehen, sich den alten Mann gemeinsam vorzuknöpfen und die Sache zu irgendeinem Ende zu bringen.
Es war aber erneut Reisiger, der die Akzente setzte, indem er mit dem Fuß ausholte, wie bei einem hoch zu spielenden Ball, nur, daß er eben keinen Ball spielte, sondern dem auf dem Boden Liegenden, der sich jetzt halb aufgerichtet hatte, einen Tritt in die Rippen versetzte. Der Körper des Jungen ging in die Höhe, zappelte in der Luft, bog sich und schlug noch heftiger als zuvor auf dem Mosaik des Trottoirs auf.
Was Reisiger getan hatte, bedeutete eine neuerliche Verhöhnung: nämlich dadurch, daß er in Hooligan-Manier vorgegangen war. Er, der »alte Mann«, spielte hier den Brutalo, spielte den Lässigen, den Virtuosen. Weshalb sich nun wenigstens der Plattnasige aus seiner Lethargie befreite und auf Reisiger losstürzte. Dabei brüllte er: »Zwei neue Augen, der Herr?!«
»Ich bitte darum«, sagte Reisiger und vollzog eine Körpertäuschung. Oder hielt es eben für eine solche, indem er dem Plattnasigen auswich und mit dem Messer eine halbkreisförmige Spur durch die Luft zog, wie um in einem Aufwasch die Bäuche der drei anderen, noch immer bewegungslosen Männer aufzuschlitzen. Was er natürlich nicht wirklich vorhatte, und dies auch gar nicht funktioniert hätte. Zu weit standen sie weg, zu dick war das Leder ihrer Jacken, um mühelos die dahinterliegenden Bäuche zu durchdringen. Aber Reisiger gab nun mal vor, sich den dreien widmen zu wollen, wechselte aber mit einem Mal die Richtung, ging ein wenig in die Knie, vollzog – nur noch auf den hinteren Kanten seiner Schuhsohlen stehend – eine Kehre und versuchte solcherart, in den Rücken des Plattnasigen zu gelangen.
Während es Leo Reisiger immer wieder schaffte, absichtslos im Rücken irgendwelcher Fernsehgeräte zum Stehen zu kommen, blieb ihm ein solches Gelingen im Falle des Plattnasigen verwehrt. Vielmehr prallte er in die Seite seines Gegners, derart heftig, das ihm nun seinerseits das Messer aus der Hand sprang, erneut in einem hohen Bogen dahinflog und in einer haustierartigen Anhänglichkeit knapp neben dem Kopf seines eigentlichen Besitzers aufschlug.
Reisiger, mit einem Mal messerlos, auch ein wenig kopflos, stand
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