Der Umfang der Hoelle
Gesellschaft, die ihren Hang zu Gewalttätigkeiten gewissermaßen partikelweise ausatmete, so wie man unmerklich zu jeder Zeit transpiriert, erschien Reisiger in keiner Weise attraktiv, selbst wenn sich daraus eine Welt ergeben konnte, die frei von Kriegen war, erst recht von jenen, die erbarmungs- und aussichtslos eine jede kleine Familie erschütterten.
Eine dank Regina befriedete Gesellschaft wäre Reisiger als ein weiterer Versuch erschienen, sich von all den Regeln, die Gott mit Bedacht aufgestellt hatte, zu lösen. Regeln, die vielleicht gar nicht in einem moralischen Sinn zu verstehen waren, sondern als Regeln an sich, vergleichbar der Anordnung, während eines Spiels den Ball nicht in die Hand nehmen zu dürfen. Und zwar einen Ball, der auch wirklich da war.
Wenn Gott eine Hölle geschaffen hatte, dann vielleicht nicht nur, um die Regelverstöße zu ahnden (möglicherweise tat er das gar nicht), sondern um jene zu verfluchen, welche das Regelwerk links liegen ließen. Die so arrogant waren, gar nicht erst mitspielen zu wollen.
Der einzige Punkt in Bobecks Argumentation, welcher Reisiger zu denken gab, war jener einer Pillen schluckenden Menschheit, die auch einmal etwas Gescheites schlucken sollte. Wobei Reisiger sich die Frage stellte, ob der Einsatz von Medikamenten nicht ganz grundsätzlich abzulehnen war. Warum sollte ein blutdrucksenkendes Medikament weniger verwerflich sein als LSD? In einem göttlichen Sinn war beides »unsportlich« zu nennen. Nicht, weil Gott etwas dagegen hatte, daß der Mensch sich weiterentwickelte, nicht, weil Gott sich gegen Flugzeuge und Haarfestiger stemmte. Aber was ihn mit Sicherheit störte, war der Versuch, sich mit unlauteren Mitteln die Gesundheit zu erhalten. Hätte er das gewollt, hätte er gewiß einen anderen Menschen geschaffen.
Natürlich lebte auch Reisiger abseits einer solchen Konsequenz und Sportlichkeit. Beispielsweise hatte er einst einen entzündeten Wurmfortsatz, sprich Blinddarm, entfernen lassen. Was ja wohl kaum den Regeln entsprach. Denn so blind und verzichtbar der Appendix auch sein mochte, war nur ein Schöpfer vorstellbar, der sich bei diesem Gebilde und seiner beträchtlichen Anfälligkeit auch etwas gedacht hatte.
»Eines muß Ihnen doch klar sein«, sagte Reisiger und wandte endlich seinen Blick von einer stürmischen Nacht ab und Bobeck zu, »daß, wenn in einigen Tagen die Polizei hier auftauchen wird, ich beileibe nicht darauf verzichte, denen zu sagen, wer Sie in Wirklichkeit sind.«
»Davon wird Ihr Rückenmark nicht wieder heil, oder?«
»Es geht um mehr als mein Rückenmark. Ich bin ein konservativer Mensch, wie Sie sich eigentlich denken müßten, ich halte was von Gerechtigkeit. Ich finde, daß Menschen, die andere Menschen in Sternwarten sperren, um dann diese Sternwarten in Brand zu setzen, besser in Gefängnissen aufgehoben sind als auf Bohrinseln.«
»Ich bitte Sie, wenn Barbara kein Gefängnis ist, dann weiß ich nicht. Seitdem ich hier bin, war ich kein einziges Mal an Land. Zu riskant.«
»Ich glaube kaum, daß Sie verzichten werden, die ganze Welt mit Ihrem Regina zu beglücken.«
»Ich werde – zur rechten Zeit – meine Erkenntnisse zur Verfügung stellen. Selbstverständlich. Nach alldem, was geschehen ist, wär’s ein Sakrileg, darauf zu verzichten.«
»Man wird Sie sicher zwingen, Ihr Wissen für sich zu behalten. Wer sollte an einer friedlichen Welt interessiert sein, in der dann ein jeder mit seiner Gewalt wie mit einem kleinen, ungefährlichen Schoßhündchen spazierengeht?«
»Schoßhund ist viel zu groß gedacht, lieber Herr Reisiger. Bakterium würde ich vorschlagen, ein Bakterium, das darauf verzichtet, sich zu vermehren.«
»Egal. Man wird es nicht zulassen.«
Bobeck lächelte. Es war ein schwaches Lächeln, besaß jedoch einen breiten, goldenen Rahmen. Beinahe wirkte Bobeck wie ein Toter, der von seinem Grab aus daranging, die Welt zu revolutionieren. Er sagte nichts, aber in seinem Blick lag Gewißheit.
»Was soll’s«, meinte Reisiger und sah wieder hinunter auf den Ring der Eiswand, der von hohen Brechern bestürmt wurde, »ich werde die Polizei aufklären.«
»Eigentlich sollten Sie das sofort tun. Per Funk. Oder zumindest mit Chips sprechen. Ich meine, bevor ich vielleicht auf die Idee komme, Sie aus dem Weg zu räumen.«
»Sie haben recht«, sagte Reisiger, unangenehm berührt von der Tatsache, daß Bobeck, der Bedroher, ihn nicht bedrohte, sondern zur Vorsicht ermahnte.
Reisiger griff
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