Der Umfang der Hoelle
»Aber Sie haben recht. Ich bin auch neugierig. Ich frage mich, wie Sie damals aus Purbach entkommen konnten. Sie und Ihre Schwester.«
Bobeck zuckte mit den Schultern. Freilich zuckte auch eine Spur von Amüsement mit. Er offenbarte, Purbach zunächst einmal gar nicht verlassen zu haben. Und zwar mit dem Instinkt eines Tiers, das sich tot stellt.
Wenn nun ein Mensch sich tot stellt, dann tut er dies am besten in einer Umgebung, die seine Täuschung optisch unterstützt. Weshalb Siem Bobeck, nachdem er hatte erkennen müssen, daß sein Plan mit der brennenden Sternwarte nicht aufgehen würde, in die einzige Gruft geflüchtet war, die der Purbacher Friedhof aufzuweisen hat und welche der alte Habsburger für seine beiden Frauen, seine Kinder und eine ominöse französische Dame hatte erbauen lassen. Kaum anzunehmen, daß es den drei toten Frauen eine Freude war, nebeneinander zu liegen.
Übrigens war die Gruft unversperrt gewesen, ganz dem Purbachschen Stil gemäß. Wie ja überhaupt das Katholische, ganz im Gegensatz zum kleinmütig Evangelischen, sich gerne unversperrt gibt. Einen katholischen Himmel und eine katholische Hölle kann man sich als öffentlich zugänglich vorstellen, während die protestantische Version sich eigentlich nur mit einem völlig humorlosen Türsteher denken läßt.
Die Gruft verfügte über eine schwächliche Kellerbeleuchtung sowie eine geradezu winzige Kapelle, die mit ihren vier Bänkchen, dem niedrigen, gerippten Gewölbe und einem handspiegelgroßen Bildnis, das den Heiligen Franz von Assisi zwischen einem Lamm und einem Wolf zeigte, wie für eine kleine Kindergruppe gedacht schien.
Gerade als Bobeck eben jene Kapelle betreten wollte, tauchte seine Schwester auf, die mit jenem geschwisterlichen Instinkt, der eine eineiige Qualität besitzt, geahnt hatte, wohin sich ihr Bruder flüchten würde. Sie wußte Bescheid in Purbach. Auch ihr selbst erschien die Gruft als der geeignete Ort, dem Heer der Polizei, das nun über die Ortschaft kommen würde, zu entgehen. Zudem drängte es sie, ihrem Bruder den Schädel einzuschlagen.
»Später«, meinte dieser kaltschnäuzig und zog seine Schwester in die Kapelle, die bei allem Unversperrtsein sich gleichzeitig dadurch auszeichnete, hinter einer Reihe mehrfach gegen- und zueinander verschobener halber Wände zu liegen, woraus sich der Eindruck einer einzigen, geschlossenen Wand ergab. Diese optische Täuschung – ein Meisterstück des hochgradig verspielten Habsburgers – war derart perfekt, daß Gerda Semper meinte, ihr wahnsinniger Brüder wolle sie direkt in das Mauerwerk hineinführen. Für einen Moment kam ihr das Eintreten in die Kapelle vor wie eine Sequenz aus Ein Mann geht durch die Wand .
Die Polizisten, die dann nur Stunden später auch die Gruft einer genauen Überprüfung unterzogen, erlagen wie jedermann der Illusion, ein durchgehendes, lückenloses Mauerwerk vor sich zu haben. Selbst Pfarrer Marzell wußte nichts von dieser Kapelle, deren Pflege – und gepflegt wurde sie durchaus – einer hundertjährigen Purbacherin zukam, die man selbstverständlich weder zum Fall Bobeck noch zur habsburgischen Gruft befragte. Warum auch hätte man das tun sollen?
In dieser Kapelle hockte nun das Geschwisterpaar wie in einem Puppenhaus und war zum Schweigen verurteilt. Gerda betete wortlos. Bobeck vertrieb sich die Zeit mit dem Nachdenken über quantenhafte Störungen, welche nicht nur die Struktur makroskopischer Systeme veränderten, sondern die eines jeden Systems. Die Störung und der Fehler bestimmten das Gesicht der Welt. Und gewissermaßen würden sie auch seinem eigenen Gesicht eine neue Gestalt verleihen.
Zwei Tage verbrachten die Geschwister in der Kapelle, diese nur verlassend, um in den Nischen der Gruft ihre Notdurft zu verrichten. Gerda trank aus dem bis zum Rand gefüllten Weihwasserbecken, während ihr konfessionsloser Bruder die Flüssigkeit bevorzugte, die er in einer Gießkanne neben dem Altar entdeckt hatte.
Es war durchaus vernünftig, die zwei Tage abzuwarten, da sich weiterhin eine Schar von Polizisten im Dorf herumtrieb, Häuser, Scheunen und Keller durchsuchte, die Leute befragte, Hinweisen nachging, jedoch nach und nach die Überprüfung in andere, benachbarte Ortschaften verlegte, längst mit dem Gefühl, etwas durch und durch Sinnloses zu tun. Allein der Routine folgend.
Solange Gerda gezwungen war, zu schweigen, war ihr dies unerträglich erschienen. Die stillen Gebete hatten als Versteinerungen der Wut
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