Der Umfang der Hoelle
meiner guten Kontakte zur Küche bringe ich sie in Umlauf. Das Regina steckt im Nudelteig. Natürlich glauben die Leute hier, sie seien nach Spaghetti süchtig. Man muß die Dosis gering halten, dann dreht niemand durch. Oder hatten Sie das Gefühl, an einen Kriegsschauplatz gelangt zu sein? Nirgends geht es friedlicher zu als auf Barbara , ohne daß die Leute deshalb wie seelenlose, dumpfe Maschinen durch die Gegend laufen. Ich darf sagen, wir haben die Gewalt im Griff, wir haben sie kultiviert. Kein Wildwuchs mehr, kein undurchdringliches Dickicht, keine versunkenen Pfade, sondern ein freundlicher Wald mit breiten Wegen und einer übersichtlichen Ausschilderung. Es wird nicht nötig sein, die Menschheit zu befrieden, indem wir die Hälfte von ihr an die Wand stellen. Oder Gefängnisse bauen groß wie Kleinstaaten.«
»Das klingt paradox, Regina bewirkt doch einen Gewaltschub.«
» Regina funktioniert wie ein natürlicher Dünger, wie Humus. Es lockert den Boden, aus dem der Mensch herauswächst. Die Leute beginnen, sich ihres Gewaltpotentials zu erfreuen, wie ein Mensch mit Glatze, dem frische Haare sprießen und der nun einen neuen, weit positiveren Zugang zu dem besitzt, was Haare mit sich bringen. Die Leute hören auf, hinter ihrer Aggression einen Dämon zu vermuten. Sie erkennen die Schönheit eines Triebes, der ja im Grunde nichts anderes ist als Bewegung, als Expansion. Sie wachsen, sie gedeihen. Was bitte nicht heißt, daß sie sich in Typen mit stahlblauen Augen verwandeln. Ich rede von der Psyche, die gesundet. Die Reginanten , so nenn ich meine glücklichen Patienten, leben Tag für Tag ihre Gewalt aus, aber in einer verschwindenden Weise, kaum sichtbar, kaum spürbar, nadelstichartig. Es kommt zu Rempeleien, Drohgebärden, verbalen Attacken, alles winzig, alles von einer solchen Kürze, daß es einzeln genommen etwas von der Virtualität jener Teilchen besitzt, die im Auftauchen begriffen auch schon wieder verschwunden sind. Die nie wirklich existent sind und dennoch eine Wirkung besitzen. Ein Ball, der gar nicht da ist, jedoch das Tornetz ausbeult.«
»Tor!« rief Reisiger und vollzog eine verächtliche Grimasse.
»Richtig«, sagte Bobeck. »Ein Torschuß ohne Ball.«
»Und der Sprung des Täters in sein Opfer?«
»Soweit kommt es nicht«, versicherte Bobeck. »Diese quasi moralische Seite von Regina kann man sich ersparen. Wie ich schon sagte, eine Frage der Dosis. So ist das immer. Darum Forschung, um die richtige Menge festzustellen. Darin sollte übrigens auch die Aufgabe der Theologie bestehen, die richtige Menge Religion zu bestimmen. Es ist immer zuviel oder zuwenig davon da.«
»Sie sind irre.«
»Mag schon sein. Das Ergebnis zählt. Und es ist ein gutes Ergebnis. Denken Sie daran, was die Menschen all für Zeug schlucken. Warum nicht einmal etwas, daß ihnen auch wirklich hilft?«
»Sie wissen doch gar nicht, wie sich der Stoff langfristig auswirkt.«
»Darum bin ich ja hier, um das herauszufinden. Hinderlich ist nur, daß der Großteil der Leute, die auf Barbara arbeiten, alle drei Wochen ausgewechselt werden. Es fehlen ihnen sodann die Spaghetti, die richtigen Spaghetti. Klar, sie nehmen während dieser Pausen jede Menge Teigwaren zu sich, wie Abhängige das eben tun, aber es nützt natürlich nichts. Was zu einigen Problemen führt. Eben nicht nur zu den üblichen körperlichen Symptomen des Entzuges, sondern zu einem Verlust an Gewaltkultur. Sie verhalten sich unmäßig. Anstatt wie unter dem Eindruck von Regina ihre Aggressionen hübsch brav auszuleben, sind sie nun stunden- und tagelang friedliche Menschen, um dann aber aus heiterem Himmel jemandem die Fresse zu polieren. Natürlich fällt das auf. Und leider glauben die Verantwortlichen, es hätte mit der Situation auf Barbara zu tun. Nun gut, ich werde die Sache noch in den Griff bekommen.«
»Ja, ja, das ist ja Ihre Spezialität, Dinge in den Griff zu bekommen.«
»Nicht alles im Leben ist so einfach, wie für einen Plattenspieler Werbung machen.«
»Damit habe ich aufgehört.«
»Vernünftig«, sagte Bobeck, »die Zukunft wird mit Sicherheit nicht der Musik gehören.«
Reisiger öffnete die Hände zu einer Geste, die wohl bedeuten sollte, daß ihm das Schicksal der Musik gleichgültig sei. Weit weniger gleichgültig war ihm freilich das Schicksal Siem Bobecks, umso mehr, als dieser aus seinen Fehlern nicht gelernt zu haben schien und sich weiterhin fröhlich als Experimentator betätigte. Das Argument einer möglichen
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