Der Umfang der Hoelle
lauter Dankbarkeit, nach Purbach mitgenommen zu werden. Ganz abgesehen davon, daß man Prostituierte nicht so einfach aus dem Ärmel schütteln konnte. Schon gar nicht in fahrenden Zügen. Über eine Erklärung nachdenkend, zog sich Reisiger an, schob die Sitze in ihre Ausgangsposition, schlüpfte in seine Schuhe und begann von neuem, den Mond zu betrachten, der jetzt etwas von der Innenseite einer halbierten Eierschale hatte. Wie frisch verspachtelt.
Erschöpft, nicht zuletzt auch von den vielen Fragen, die sich aufdrängten, nickte Reisiger ein und fiel in einen Schlaf, der von kleinen, blinden Momenten des Wachseins durchwachsen war. Einem Wachsein ohne Bilder und Töne. Auch ohne Erinnerung. Dazwischen ein Schlaf wie aus alten Badeschwämmen.
»Es ist Zeit.« Es war die Stimme Kim Turinskys. Sie hatte Reisiger an der Schulter gefaßt und ihn ein wenig geschüttelt.
»Schon gut«, sagte Reisiger. »Wo sind wir?«
»Wir müßten in ein paar Minuten Linz erreichen. Zumindest der Uhr nach.«
Reisiger erinnerte sich, was geschehen war. Erinnerte sich an den überirdischen Busen und an den gelungenen Sex. Erinnerte sich dieser Verwirklichung seiner Männerphantasie, die in erster Linie dem Umstand radikaler Anonymität gegolten hatte. Hyperpornographisch! Reisiger erinnerte sich, verlor aber kein Wort über die Sache. Sollte es je etwas zu sagen geben, wollte er den Anfang Frau Turinsky überlassen. Welche aber zunächst bloß meinte, und zwar mit einigem Recht: »Wird Zeit, daß wir an die frische Luft kommen.«
Die frische Luft von Linz.
Entgegen dem schlechten Ruf dieser Stadt bezüglich ihrer frischen oder eben nicht so frischen Luft, war zumindest jetzt um vier Uhr früh ein angenehm kühles, sauber riechendes Lüftlein zu verspüren. In dieses Lüftlein traten Turinsky und Reisiger hinaus, zündeten sich beide eine Zigarette an, blickten dem abfahrenden Zug nach, der langsam in der Allee aus Signallampen verschwand, und waren sodann die einzigen Personen auf dem Bahnsteig. Der Zeiger der großen, runden, hellen Uhr fiel von einer Sekunde zur nächsten, als schneide er Köpfe ab, die er wenig später, die Sechs passierend, seitenverkehrt wieder annähte. Darin bestand möglicherweise überhaupt das Wesen der Zeit: Köpfe abzuschlagen, um sie wieder anzunähen. Und zwar falsch herum anzunähen.
Eine dreiviertel Stunde taten die beiden nichts anderes, als auf einer der Bänke dieses Bahnhofs zu sitzen, der in seiner banalen und sachlichen Häßlichkeit völlig unaufdringlich wirkte, ja mittels des Unaufdringlichen eine seltene poetische Kraft entwickelte. Zumindest um diese Uhrzeit. Woran sich auch dadurch nichts änderte, daß nach und nach Leute auftauchten. Sie standen plötzlich da, als hätte ein detailverliebter Modelleisenbahnbauer sie hier abgestellt.
»Mir ist kalt«, richtete Turinsky nach dieser langen Pause erste Worte an Reisiger. Obgleich sie natürlich zwischenzeitlich einen Pullover übergezogen hatte, der das Farbmuster von Suppenwürze besaß und ihren Oberkörper förmlich schablonierte.
»Ich zwinge Sie nicht, hier zu sitzen«, erklärte Reisiger.
»Gut so, gehen wir.«
In der Nähe des Bahnhofs fand man ein kleines Café, das schon geöffnet hatte. Kein Café, ein Espresso. Bereits die Neonschrift über dem Eingang – Betty’s Stube – sowie die Lichtergirlande, die ein einziges, mit verwesten Topfpflanzen zugestelltes Fenster schmückte, dieser ganze Eindruck des Billigen und Verruchten verunsicherte Reisiger. Er überlegte laut, ob man nicht nach einem anderen Lokal Ausschau halten sollte.
»Sind Sie ein Spießer?« fragte Turinsky, wie man fragt: Kauen Sie Fingernägel? Essen Sie Singvögel?
»Was hat das denn damit zu tun?« beschwerte sich Reisiger, preßte die Lippen zusammen und trat voran in das Lokal.
Der Inhalt bestätigte die Verpackung. In dem engen Schlauch, der tief in das Innere des Gebäudes führte, erstreckte sich eine hölzerne Theke, die umgeben war von Geschmacklosigkeiten, Souvenirs und Nippes, Bierdeckelästhetik, Fotografien von Fußballern und Schifahrern und wohl auch einigen Stammgästen als Fußballer und Schifahrer. Die beiden kleinen Plastiktische waren unbesetzt, am Tresen aber standen vier oder fünf Männer, die bei Reisigers Eintreten ihre Köpfe in der Art von Feldhasen gehoben hatten. Ihre Visagen erinnerten schon weit weniger an furchtsame Tiere. Sie sahen alle aus wie eine Mischung aus Charles Bukowski, Diego Maradona und Gertrude Stein.
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