Der Umfang der Hoelle
sodaß ein geradezu südliches Flair entstand. Eilig trug man Tische und Sessel nach draußen, als gelte es eine letzte Chance zu nützen. Von der legendären, stilbildenden Grantigkeit städtischer Österreicher war nichts zu bemerken. Die Leute, die ihre vom Winter geweißte Haut bedenkenlos der Sonne aussetzten, sich selbst quasi zum Auslüften ins Freie stellten, gaben sich freundlich und zuvorkommend. Sie bewegten sich mit Leichtigkeit und huldigten ihrer Begeisterung für samstägliche Freiheiten. Und obgleich natürlich auch in Linz das Tragen von Hüten in eine kaum noch gegenwärtige Vergangenheit fiel, so erschien die Barhäuptigkeit an diesem Tag als eine bewußte und gewollte. Freie Köpfe für freie Bürger. Nur die Jugendlichen trugen fortgesetzt ihre Wollmützen und Kappen und ihre aus Sweaters herauswachsenden Hauben, die wie die Fangblasen fleischfressender Pflanzen anmuteten. Diese Jugend würde auch den Rest der warmen Jahreszeit unter Schichten von Textilien verborgen bleiben. Eingepuppt in Übergrößen.
Ungünstigerweise hatte Reisiger darauf vergessen, sich von Tom Pliska eine Telefonnummer geben zu lassen, unter der er ihn hätte erreichen können. Sodaß man also gezwungen war, sich von einem Taxi hinaus zum Flughafen chauffieren zu lassen, wo eine Menge verwirrter Urlauber herumstanden. Verwirrt und auch ein wenig verärgert. Nicht irgendwelcher Verspätungen, sondern des unglaublich warmen Wetters wegen. Sie kamen sich betrogen vor, da sie ihren Urlaub ja antraten, um der Kühle zu entkommen, welche üblicherweise so kurz nach Ende des Winters vorherrschte. Und nun waren sie also gezwungen, die Linzer Sonnenscheinidylle zu verlassen, um möglicherweise, Gerüchte machten bereits die Runde, in diverse Unwetter zu fliegen, die sich zynischerweise über dem südlichen Spanien und den benachbarten Ferieninseln zusammenbrauten. Weshalb im Unterschied zur märchenhaften Stimmung, wie sie in der Linzer Altstadt herrschte, auf dem Flughafengelände eine deutliche Tristesse zu spüren war.
Dazu paßte auch ein merkwürdiger Anblick, der sich Reisiger und Turinsky beim Eintreten in die Abflughalle offenbarte. Auf dem Boden kniete ein Mann. Er hatte seine Arme ein wenig von sich gestreckt und die Innenfläche der Hände nach oben gedreht, wobei die beiden kleinen Finger aneinanderstießen. Es war offensichtlich, daß er bettelte, auch wenn er eher wie ein Student aussah, ein junger Woody Allen mit hoher Stirn und dicker Brille. Eins seiner Augen jedoch war geschlossen, wie verklebt. Ganz abgesehen davon, daß Reisiger noch nie jemand auf einem Flughafen hatte betteln sehen, bestand das eigentlich Sonderbare darin, daß der junge Mann auf einem Hund kniete. Keinem dreibeinigen, aber eben doch auf einem Hund. Und das war ja nun so ziemlich das letzte, was man sich eigentlich erlauben durfte, als Bettler sowieso. Aber auch wenn Reisiger seine Augen rieb und sich schüttelte, als wollte er ein Traumbild loswerden, es änderte sich nichts daran, daß der Mann seine Knie in den Leib des ausgestreckt daliegenden, wolligen, halbgroßen Mischlings gestützt hatte. Das war natürlich eine Situation, die sich eignete, den Protest der Passanten hervorzurufen. Tatsächlich standen mehrere Menschen um den Knienden herum, griffen aber nicht ein. Auch nicht die beiden Securitybeamten, die höchstwahrscheinlich das Eintreffen der Polizei abwarteten. Man war sich unsicher. Und diese Unsicherheit resultierte wohl nicht zuletzt aus dem zufriedenen Gesichtsausdruck des Hundes, der ab und zu ein wohliges Grunzen von sich gab, als gebe es nichts Schöneres für ihn, als auf diese Weise »bekniet« zu werden.
»Sehen Sie, was ich sehe?« fragte Reisiger.
»Dem Tier scheint’s zu gefallen«, meinte Turinsky gelassen. »Vielleicht so eine Art Zirkusnummer.«
»Ja, vielleicht.«
Damit ließ man es bewenden und begab sich hinüber zum Empfang. Gewissermaßen zum nächsten Hund. Denn von weitem erkannte Reisiger die hagere, schwarzweiße Gestalt jenes Dreibeiners, der den Namen Vier trug. Neben Vier, imposant, modisch, schlank, sich soeben eine Pille zwischen die Lippen schiebend, stand Tom Pliska. Beim Näherkommen bemerkte Reisiger, daß der langbeinige Pliska diesmal nicht bloß einen tadellos sitzenden Anzug von der Farbe einer Gewitterwolke trug, sondern auch ein ebenso tadelloses dunkelblaues Hemd, dessen Kragen in der Manier des Sammy Davis jr. tragflächenartig über das Revers geschlagen war. Auch präsentierte
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