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Der Umfang der Hoelle

Der Umfang der Hoelle

Titel: Der Umfang der Hoelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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die eigene Gesundheit. Außerdem spielte diese Gesundheit ohnehin keine Rolle mehr. Nicht, nachdem er Lottoschein und Quittung verbrannt hatte.
    Nein, Gesundheit war nicht das Thema. Allerdings fragte sich Reisiger, wie alt diese Frau tatsächlich war. Wie gesagt, er war kein Meister im Schätzen eines Alters. Und wenn sie ihm wie fünfzig vorkam, konnte sie genausogut auch an die Vierzig sein. Vielleicht machte sie ja bloß auf fünfzig, vielleicht stand sie in Wirklichkeit noch diesseits ihres Klimakteriums und zelebrierte eine gewisse Verlebtheit, vielleicht …
    Zu spät! Reisiger hätte sich geradezu geniert, zu beenden, worauf er sich gar nicht erst hätte einlassen dürfen. Er hätte sich nicht minder geniert, sein Glied im letzten Moment herauszuziehen und sich also nicht in, sondern auf der Frau zu entladen. Oder auch nur irgendwelche Einrichtungsteile dieser Zugkabine zu bekleckern. Das erschien ihm seit jeher als unanständig, ja abartig. Als bemale man das Sofa statt die Wand.
    Reisiger verwarf also jeden Gedanken an mögliche unangenehme Folgen, führte sein Geschlecht wieder tiefer in das der Frau, bog sich ein wenig zurück, ein Hohlkreuz bildend, reckte das Kinn in die Höhe und schnappte nach Luft. Dabei sagte er irgendwelche Dinge, die er meinte sagen zu müssen, vonwegen wie gut das tue und wie großartig das alles sei et cetera. Es gab nun mal eine Höflichkeit, die vor nichts halt machte. Die Frau hingegen, die hin und wieder – wie von einem Dynamo betrieben – gelblich aufleuchtete, verzichtete auf vergleichbare Statements und blieb bei ihrem Selbstgespräch. Scheinbar war sie damit beschäftigt, einen Höhepunkt zu erreichen, den vorzuspielen sie niemals auf die Idee gekommen wäre. Sie gehörte wohl zu denen, die das eigene Glück dem fremden vorzogen.
    Und wie das manchmal im Leben so spielt: Ausgerechnet diesen zwei Personen, die rein gar nichts voneinander wußten und nicht einmal wegen eines fashionabeln Codes auf sich aufmerksam geworden waren, diesen in Wildfremdheit verbundenen Menschen gelang es nun allen Ernstes, so ziemlich gleichzeitig auf einen Orgasmus zuzusteuern. Nicht zuletzt, weil keiner von beiden darin ein Ziel erkannte. Man kam gemeinsam, so wie man gemeinsam in Verkehrsunfälle verwickelt wird, also einer in den anderen hineinfährt, ohne auch nur grüß Gott gesagt zu haben, einer den anderen vielleicht sogar tötet.
    Da der Höhepunkt der Frau sich verhältnismäßig lange dahinzog und wiederum in sich eine Entwicklungsgeschichte mit Anfang, Gipfel und Ende bildete, hatte Reisiger die Möglichkeit, seinen eigenen Koitus mehr zu setzen als zu erreichen, in etwa wie man eine Bombe auf ein ziemlich weites, ziemlich ebenes Feld fallen läßt. Und damit einiges an Krach und Rauch verursacht, ohne aber jemand zu treffen. Im Grunde lobenswert.
    Während dies geschah, drehte Reisiger in lustvoll verkrampfter Weise seinen Kopf zur Seite und entließ einen dürren, langgezogenen Laut, der sich anhörte, als hätte eine sprechende Nähmaschine das Wort »g.r.a.n.d.i.o.s.« von sich gegeben. Dabei fiel sein Blick auf die Abteiltüre, die nicht ganz so geschlossen war, wie er gedacht hatte. Vielleicht war die Türe gerade erst verrutscht, vielleicht aber hatte die Lücke von Anfang an bestanden. Jedenfalls erkannte der in seinen Orgasmus eingeschnürte Leo Reisiger hinter der Scheibe das ihm zugewandte Gesicht Kim Turinskys. Die junge Frau hielt sich eine Zigarette in den Mund, inhalierte, blies aus und ließ ein mildes Lächeln folgen. Ein Lächeln ohne Spott. Ganz in der Art des Schutzengels, für den sie sich ausgab.
    Reisiger allerdings war weniger erfreut als schockiert. Was freilich nichts daran änderte, daß er seinen Höhepunkt zur Gänze auslebte. Wobei er zuletzt seine Augen schloß, wie ein Kind, das von einer viel zu hohen Mauer springt.
    »Genug«, sagte die Frau, hinter der Reisiger kniete, und schlüpfte aus ihm heraus. Sie packte ihre Brüste zurück, drückte ihren Rock an den Schenkeln abwärts, erhob sich und verließ ohne ein weiteres Wort das Abteil. Schneller konnte man gar nicht sein.
    Reisiger überlegte, es vielleicht tatsächlich mit einer Gewerblichen zu tun gehabt zu haben. Wogegen freilich ein ungeschützter Verkehr sprach. Und vor allem natürlich die Frage, wer denn dann einen solchen käuflichen Akt bezahlt haben sollte. Ihm widerstrebte die Vorstellung, daß Kim Turinsky ihm eine Prostituierte spendiert hatte. Wofür denn? Doch wohl kaum vor

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