Der Umfang der Hoelle
Staub machten und unsere großartige Polizei es vorgezogen hat, sich unendlich viel Zeit zu lassen. Herr Reisiger hat eben nicht das getan, was die meisten tun – sich einfach nur heraushalten und dann meinen, im Nichtstun und Wegsehen bestehe eine Tugend. Man könnte natürlich sagen, daß die Sache ein bitteres Ende genommen hat. Aber ich will ganz offen sein: Das Ende ist nicht bitter. Bitter wäre es nur, wenn Claire oder Herrn Reisiger etwas zugestoßen wäre. Ich meine, wenn sie jetzt dort liegen würden, wo Fred liegt. Und daß er dort liegt, wo er liegt … nun, das braucht beim besten Willen niemand leid zu tun. Bedauerlich ist nur, daß Claire damit leben muß. Aber sie wird damit zurechtkommen, weil es ganz einfach keinen Grund gibt, nicht damit zurechtzukommen.«
Eigentlich ein Moment, dachte Reisiger, der geeignet gewesen wäre, die Theorien Felix von Haugs ins Spiel zu bringen. Aber selbstverständlich hielt er seinen Mund, sah in die Runde und überlegte sich, bei welcher von den Damen es sich um Claire Rubin handeln könnte. Allein die Notwendigkeit einer solchen Überlegung war haarsträubend. Wenn man nämlich Claire Rubins Berühmtheit bedachte. Und erst recht angesichts der Tatsache, daß Reisiger dieser Frau ja bereits begegnet war, sich aber einfach nicht mehr daran erinnern konnte, wie sie denn eigentlich ausgesehen hatte. Ihm war bloß noch ein vages Bild präsent, das Bild einer blonden, adretten Erscheinung. Doch sehr viel mehr hatte er auch am Tag des Vorfalls nicht wahrgenommen.
Am meisten erstaunte aber, daß Reisiger das Konterfei dieser berühmten Sängerin nicht im Zuge seiner beruflichen Tätigkeit zur Selbstverständlichkeit geworden war. Immerhin war er seit langem in der Hi-Fi-Branche tätig und hatte geradezu notgedrungen mit Musik zu tun. Es stellte eine beispiellose Ignoranz dar, daß Reisiger von Claire Rubin gerade mal den Namen gekannt, vielleicht auch ungewollt und unbewußt einen ihrer Hits gehört hatte, aber nicht wußte, wie sie aussah. Es muß also gesagt werden: Leo Reisiger hatte von Musik so gut wie keine Ahnung. Schlimmer noch: Sie interessierte ihn nicht im geringsten. Der Erfolg, den er in seinem Beruf errungen hatte, basierte allein auf Umständen, die ohne einen Bezug zur eigentlichen Materie auskamen. Ja, dieser Erfolg war quasi das Resultat völliger Unabhängigkeit vom Eigentlichen. Das klingt unglaublich. Ist es auch. Aber wahr ist es dennoch.
Nun, Reisiger konnte nicht sagen, wen er hier für Claire Rubin halten sollte. Diese Damen wirkten bei aller Noblesse – viele blond und adrett – auch ziemlich desolat, als hätten sie sich vom Leben allzu große Scheiben abgeschnitten. Auch besaß niemand etwas von jener Einmaligkeit, von der Kim Turinsky geschwärmt hatte. Natürlich, Claire Rubin war dieser Geschichte wegen in zahllosen Zeitungen abgebildet gewesen, in einigen sogar Seite an Seite mit Reisiger. Aber Reisiger hatte ja in keine dieser Zeitschriften hineingesehen. Nicht einmal in jene, die ihm seine Sekretärin vorgelegt hatte. Er fragte sich jetzt selbst, ob er nicht – von seinen zwei großen Leidenschaften abgesehen – als der desinteressierteste Mensch auf Erden wandelte. Einen Moment vermittelte ihm dieser Gedanke ein Gefühl ungeheurer Bedeutung.
»So«, schloß Bobeck seine kleine Rede, »das wäre also gesagt. Ich möchte, daß Herr Reisiger und seine Begleiterin sich bei uns wohl fühlen. Das ist das mindeste.«
Die Tischgesellschaft nickte im Einklang. Daß jemand es aber auch ernst meinte, konnte sich Reisiger nicht vorstellen. Er mußte diesen Leuten als Idiot erscheinen. Niemand von ihnen hätte sich dazu hinreißen lassen, sich mit einem Typen, wie Fred Semper es gewesen war, auf ein Spiel mit Dolchen einzulassen.
Zwei weitere Stühle wurden herangeschoben, und Bobeck lud Reisiger und Turinsky ein, neben ihm Platz zu nehmen. Tom Pliska verschwand im Gebäude.
»Sie mögen doch Fisch?« fragte Bobeck seine beiden Gäste, nahm ihre bejahenden Gesten aber nicht wirklich zur Kenntnis, sondern gab einer Bediensteten, die am Rand und in der Sonne stand, ein Zeichen. Eine weitere Angestellte legte zwei Gedecke auf, schenkte Wein und Wasser in die jeweiligen Gläser. Der Rest der Gesellschaft kümmerte sich nicht weiter um Reisiger und Turinsky.
»Sie verzeihen«, sagte Bobeck, »daß meine Frau Sie erst später begrüßen wird. Claire hat noch zu arbeiten. Kennen Sie Ihre Romane?«
»Natürlich«, erklärte Turinsky.
Reisiger
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