Der Umfang der Hoelle
Person passen. Es gibt Figuren, da ist es ganz unmöglich, daß sie lila Socken tragen. Und wenn, dann muß dies begründet werden. Ein Modeschöpfer muß aber nichts erklären, gar nichts. Wenn er über die Macht verfügt, kann er wüste Dinge tun. Er kann die derbste Geschmacklosigkeit begehen.«
»Sie haben Ihren Modeschöpfern freie Hand gelassen?« wunderte sich Turinsky, die von ihren Autobahnbrücken her das Leid der Einschränkung nur zu gut kannte.
»Wenn Sie einen Namen hatten, selbstverständlich. Wie sonst soll es funktionieren? Modeschöpfer sind Leute, welche tatsächlich die Zukunft bestimmen. Dank ihres Namens können sie festlegen, ob wir, die Konsumenten, eine bestimmte Farbe nächstes Jahr ganz großartig oder ganz fürchterlich finden. Über die Zukunft kann man nicht streiten. Sie geschieht.«
»Kein freier Wille?«
»Sicher nicht in Fragen der Mode«, erklärte Bobeck.
»Und sonst?« fragte Turinsky und biß ohne jeden Skrupel in das Fischfleisch von hellstem Rosa.
»Sie wollen also wissen, ob ich als Wissenschaftler an einen Menschen glaube, der sich wahrhaftig entscheiden kann, an einer Wegkreuzung nach links oder nach rechts zu gehen oder einfach stehenzubleiben, um sich beispielsweise zu erschießen. Nein, eine solche Freiheit halte ich für ausgeschlossen. Was nicht heißen soll, ich würde an einen göttlichen Plan glauben, der uns vorschreibt, wieviel Gläser Wein wir heute leeren werden. Vielmehr ist die Menge der Gläser eins von den zahllosen, andauernden Ergebnissen, die alle auf eine einzige Entwicklung zurückgehen. Ergebnisse, die zwar keinen Plan erfüllen, aber ein bewegtes Bild schaffen.
Als dieses Universum vor 13,7 Milliarden Jahren als überdurchschnittliches Minidrama entstand, war auch die Anzahl der Gläser bestimmt, die wir heute an diesem Tisch zu uns nehmen werden. Dem ist nicht zu entkommen. Die Unwichtigkeit unserer kleinen Gesellschaft spielt dabei sinnigerweise keine Rolle. Wer sich von uns bemüht, heute ein bißchen mehr oder ein bißchen weniger zu trinken, trägt eben bloß dazu bei, daß alles kommt, wie es kommen muß.
Dennoch, denke ich, gibt es eine Freiheit. Sie liegt in der Betrachtung. Ich gestehe, das ist jetzt ein heikler Punkt. Ich bin nämlich im Laufe der Jahre zur Überzeugung gelangt, daß nicht nur alles, was wir tun, alles was geschieht, von Beginn an festgelegt war, sondern folgerichtig auch alles, was gesprochen wird. Selbst der kleinste Rülpser noch. Somit liegt die Nische, über die wir verfügen, allein im gedachten, niemals im gesprochenen Wort. Öffnen wir den Mund, erfüllen wir das Notwendige. Unser Denken aber, dann wenn es auf einer freien Entscheidung beruht, muß ohne Folgen bleiben. Das Denken kann eine jenseitige Qualität besitzen. Kann außerhalb der Ordnung dieser Welt stehen. Selten genug, aber doch hin und wieder. Manchmal denken wir etwas, das so nicht im Programm steht.«
»Dann ist aber der Modeschöpfer auch nur ein Gehilfe jener natürlichen Fügung«, meinte Turinsky, die dieses ganze Gespräch für einen Witz hielt.
»Selbstverständlich«, sagte Bobeck. Und an Reisiger gewandt: »Wie schmeckt Ihnen der Fisch?«
»Ausgezeichnet. Aber in einer Nische meines Denkens … nun, das kann ich jetzt nicht sagen, sonst wäre alle Freiheit dahin.«
»Ich sehe, wir haben uns verstanden«, lachte Bobeck, der das Gespräch wohl auch für einen Witz hielt. Jetzt aber wissen wollte, womit Reisiger sich so seine Zeit vertreibe.
Reisiger machte ein verdutztes Gesicht und erklärte: »Ich könnte mir vorstellen, daß Ihr Sekretär Sie genauestens über mich unterrichtet hat.«
»Pliska ist ein Schwätzer, der bei allem und jedem den ersten Teil ausläßt und den zweiten erdichtet. Er war ursprünglich der Sekretär meiner Frau. Ich wollte aber nicht, daß Claire die ganze Zeit mit einem solchen Schönling zusammenhängt. Doch rauswerfen konnte ich ihn nicht. Das hätte kleinlich ausgesehen. Also habe ich ihn meiner Frau abgeworben. Was nichts daran ändert, daß ich mich über die wesentlichen Dinge lieber selbst informiere. Also, lieber Herr Reisiger, erzählen Sie doch bitte.«
Widerwillig erwähnte Reisiger seinen Beruf, senkte dabei seine Stimme, als gelte es, vor diesen fremden Leuten eine Lächerlichkeit zu verbergen. Da war ihm noch lieber, von seiner eigenen Frau zu erzählen, ja, er erwähnte nun mit gespieltem Stolz ihre Leistungen als Cineastin und Langstreckenschwimmerin. Die anderen Gäste wurden hellhörig,
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