Der Umfang der Hoelle
aber natürlich keineswegs – in einem moralischen oder unmoralischen Sinn – von ihnen abhängig.
Der Zweck dieses Krieges, den Gott und der Teufel führten, blieb Reisiger freilich verborgen, wenn nicht ohnehin die Frage nach einem Zweck ebenfalls in den Bereich menschlicher Ethik fiel. Jedenfalls glaubte Reisiger verstanden zu haben, daß er zwischen die Fronten geraten war. Und daß er nur entkommen konnte, indem er diesem famosen Lottogewinn entsagte. Ohne Wenn und Aber. Weshalb er nach vielen Tagen, in denen er Lottoschein und Quittung wie eine bewußtlose Geliebte in Händen gehalten hatte, so konsequent gewesen war, im Zimmer eines muffigen Grandhotels Luzifers geschickter Anbiederung ein Ende zu setzen. Um sich was auch immer zu ersparen.
Reisigers tolldreistes Verhalten gegenüber Fred Sempers Clique bedeutete somit nicht nur eine Kompensation des soeben erlittenen Verlustes unzähliger Lottomillionen, sondern resultierte noch mehr aus dem Gefühl, just dem Teufel entgangen zu sein und damit den Abgründen, die dieser für ihn bereitgehalten hatte. Was selbstverständlich nicht hieß, Reisiger hätte sich von da an für unverwundbar gehalten. Denn einer teuflischen Falle ausgewichen zu sein, änderte ja nichts an den üblichen schicksalhaften Stolperdrähten, die so ganz ohne den Einfluß außerweltlicher Sphären bestanden. Immerhin aber hatte Reisiger gemeint, daß wer einer großen Falle entkommen war, sich mit Lust und Zuversicht in eine kleine stürzen durfte. Und wenn schon von Unverwundbarkeit nicht die Rede sein konnte, so hatte der für Reisiger glimpfliche Ausgang seiner Auseinandersetzung mit einer entfesselten Jugend ihm das Gefühl gegeben, es existiere noch so etwas wie Gerechtigkeit. Obgleich es die nicht gibt. Und abgesehen davon, daß diese Geschichte noch nicht zu Ende war.
Das alles änderte natürlich wenig daran, daß es Reisiger einen großen Schmerz bereitete, an jenen verschmähten Lottogewinn denken zu müssen. Des Geldes wegen, wie auch darum, sich um den Höhepunkt einer Spielerkarriere gebracht zu haben. So gesehen wäre es ihm recht gewesen, den Forderungen Felix von Haugs zu genügen und keinen Tag länger sich das Bild der im kleinen Flammenmeer dahinschwindenden Lottozahlen vergegenwärtigen zu müssen. Was unmöglich gelingen konnte. Da nützte es auch nichts, daß Reisiger seither keinen einzigen Lottoschein ausgefüllt hatte. Was so nicht weitergehen konnte. Er mußte wieder zu spielen beginnen. Auch wenn eine Wiederholung des Ereignisses ihn dann wohl endgültig um den Verstand gebracht hätte.
»Mein Gott, Haugchen«, murmelte Reisiger vor sich hin, »wie soll das denn funktionieren?«
»Übung« hätte Felix von Haug gesagt und erklärt, daß man selbst noch tiefgreifende, traumatische Ereignisse ablegen könne wie irgendwo stehengelassene Hüte oder Regenschirme. Daß man sie vergessen könne, wie man mathematische Formeln vergaß, Schulgedichte oder die Geburtstage ungeliebter Verwandter.
Reisiger legte den Band zur Seite und döste noch eine ganze Weile vor sich hin, wobei er die Stimmen aus dem Park als ein auf- und abebbendes, schließlich sich verflüchtigendes Gezwitscher wahrnahm. Weniger erregt als das der Vögel. Aber auch nicht ganz so melodisch.
Um sieben stand er auf, duschte ausgiebig und putzte sich ein weiteres Mal die Zähne. Er gehörte zu den Rauchern, die stets um ihren guten Atem besorgt waren. Nicht ganz zu unrecht.
Nachdem er in ein frisches, weißes Hemd geschlüpft war und sich eine von diesen dunklen Krawatten umgelegt hatte, die kaum mehr ausdrücken als das Bedürfnis, nur ja nichts falsch zu machen, kehrte er in seinen Armanianzug zurück, in seine schwarzen Schuhe, überprüfte das Vorhandensein seines wunderbaren Kugelschreibers und vollzog einen kurzen, feuchten Pfiff. Der Pfiff galt Vier, der die ganze Zeit über mit geschlossenen Augen dagelegen hatte. Er wußte um die Bedeutung solcher Pfiffe. Ob er sie auch für ein geeignetes Kommunikationsmittel hielt, bleibt dahingestellt. Nicht alles Einfache ist auch schön oder wohlklingend. Jedenfalls hatte er verstanden, erhob sich und streckte sich in Katzenmanier, sodaß nun alle vier Beine wie gerade, steife Hölzer anmuteten. Sodann rutschte er über die Bettkante, wobei er sich mit dem gesunden Hinterlauf voran hinunterließ und mittels dieser bestimmten Bewegung an ein einjähriges Kind erinnerte: vorsichtig und gelenkig.
Der Umfang der Hölle
Als Reisiger den hell
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