Der Umfang der Hoelle
hätte Reisiger auch begriffen, daß Vier hier und jetzt nichts anderes tat, als eine gewisse Fürsorge zu praktizieren. Denn als ehemaliger Lawinenhund hatte er nicht zuletzt ein feines Gespür für potentielle Opfer entwickelt. Gleich unter welche Art von Lawinen sie zu geraten drohten. Vier sah einen bestimmten Menschen und wußte: gefährdet.
Es half also nichts, Vier eine Mißgeburt zu nennen. Er beharrte darauf, seine Begleitung fortzusetzen. Reisiger gab auf. Gemeinsam trat man unter das Dach, das sich aus den Ästen der Tannenbäume ergab. Nur ein schmaler blauer Streifen blieb vom Himmel. Das Licht tröpfelte herein wie bei einem feinen Regen. Inmitten der Stille wirkte ein jedes Geräusch naturgemäß ungleich heftiger: Reisigers schleifender Schritt. Oder der Klang von Holz auf Holz, wenn Vier seine Prothese auf einer Wurzel aufsetzte. Dazu das Gezwitscher der Vögel, scheinbar die pure Erregung.
Nach etwa zwanzig Metern öffnete sich der Wald zumindest so weit, daß sich Platz für den Turm der Sternwarte ergab. Ein äußerst schmaler, ordentlich gemähter Wiesenstreifen führte um das Objekt, welches von den umstehenden Bäumen geradezu bedrängt wurde. Eine Betrachtung war nur aus unmittelbarer Nähe möglich. Als berühre man ein Bild mit der Nase. Was nicht zuletzt darum schade war, da es sich um ein ausnehmend originelles Gebäude handelte, welches über eine glatte, helle Fassade verfügte, ovale, an den Oberseiten kappenartig hervorstehende Luken und einen Eingang, der wie ein ausgefahrener Ellenbogen spitz aus der Turmform stieß. Der Grundriß schien ein wenig ungleichmäßig, oval wie die Fenster, jedoch etwas verzogen, gleich einem Gegenstand, der sich um ein Hindernis schmiegt. Woraus sich der Eindruck einer sachten Bewegung ergab.
Für einen massiven, alles andere als schlanken Turm vermittelte er eine ungewöhnliche Leichtigkeit. So wie eben mitunter auch schwere Menschen etwas Schwebendes besitzen. Von der silbernen Kuppel freilich, die in ungefähr zwanzig Metern Höhe lag, war wenig zu sehen, zu ungünstig der Winkel des zwischen Wald und Turm eingeengten Betrachters. Was nichts daran änderte, daß Reisiger sogleich die Ähnlichkeit zu jenem berühmten Einstein-Turm in Potsdam feststellte, der indes sehr viel später, in den frühen Zwanzigern errichtet worden war. Während ja die Erbauung des Purbacher Turms in die zweite Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts fiel, geplant und errichtet von jenem vergessenen englischen Dichter namens Furness. Freilich konnte Reisiger nicht sicher sein, inwieweit der Bau nachträglich aufpoliert worden war. Vielleicht eben in jenen Zwanzigerjahren. Jedenfalls befand sich der Turm – wie beinahe alles in Purbach – in einem ausgezeichneten Zustand. Die Renovierung der Fassade konnte kaum länger als ein, zwei Jahre zurückliegen.
Als Reisiger jetzt dastand, geradezu andächtig, neben sich Vier, dessen spitze Ohren mit einem Mal noch spitzer wurden, trat unvermutet ein Mensch aus dem Turm heraus. Reisiger erschrak. Zunächst einmal, weil er niemanden erwartet hatte. Dann aber, weil er glaubte, diese Person schon einmal gesehen zu haben. Ja, er meinte in ihr jene zweite Frau zu erkennen, die zusammen mit Claire Rubin gewesen war, als die beiden von Fred Semper und seinen Genossen angegriffen worden waren.
Reisiger hatte wenig Zeit, sich zu überzeugen. Die Frau, kleiner als Rubin, schlanker, man könnte auch sagen schwächlicher, rothaarig, mit einem dünnen Pullover bekleidet, der die Farbe von Cornflakes besaß, schien nicht minder irritiert zu sein, wandte Reisiger nur kurz ihr Gesicht zu, ein quasi kleingedrucktes Gesicht, sehr ordentlich, aber ohne jede Auffälligkeit, und verschwand dann rasch hinter dem Bug des vorspringenden Gebäudeteils.
»Entschuldigen Sie!« rief Reisiger in kraftlosem Ton, wartete einen Moment, wartete noch einen zweiten, unsicher, was zu tun sei. Es kam sich wie jemand vor, der unerlaubterweise im Garten fremder Leute stand und eine fremde Idylle zerstörte. Endlich setzte er sich in Bewegung und folgte der Spur der Frau. Als er aber die andere Seite erreichte, war niemand mehr zu sehen. Dafür erblickte er einen schmalen Pfad, welcher den nun merklich abwärts führenden Wald teilte. Reisiger blieb jedoch, wo er war. Es ärgerte ihn, die Frau verschreckt zu haben. Auch wenn er sich keinen Vorwurf zu machen brauchte. Mit einem Seufzer blickte er hinunter zu Vier. Der Hund schien mitzuseufzen. Reisiger begann, ihn zu
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