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Der Umfang der Hoelle

Der Umfang der Hoelle

Titel: Der Umfang der Hoelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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Marzell schon sagte, es gibt mehr als einen guten Grund dafür. Wenige Orte besitzen einen solchen Charme. Für mich jedenfalls mehr Charme als die Dialektik. Allerdings wäre es kindisch, wenn ich aus meiner großen Treue zur Kirche und zu Gebäuden der Kirche meinen würde, gläubig werden zu müssen.«
    »Ich bin der letzte«, sagte Pfarrer Marzell, »der das verlangen würde. Nichts ist schlimmer als ein halber Christ.«
    »Die Welt ist voll davon«, bemerkte der Rotgesichtige fröhlich. Und: »Dieser Saal ist voll davon.«
    »Meine Kirche ist voll davon«, blieb Marzell ungerührt.
    »Wie ist das jetzt mit der Hölle?« Es war die Frau neben dem Rotgesichtigen, die einen Hang für das Wesentliche bewies. Sie fragte: »Wie groß denn? Wo und wie?«
    »Darüber gibt es verschiedene Meinungen«, erklärte Marzell, sich eine neue Zigarette an seiner Kippe anzündend. »Mir persönlich behagt die Berechnung des Jesuiten Leys Lessius. Er gibt die Hölle mit einem Durchmesser von bloß einer deutschen Meile an, legt dann aber dar, daß sich mittels der kubischen Potenz ein Bereich denken läßt, der achthundert Milliarden Leibern verdammter Seelen Platz bietet. Wobei er die Großzügigkeit besitzt, einem jeden dort einen Raum von sechs Quadratfuß zuzuweisen. Wie sagt Robert Burton so treffend: Das ist mehr als ausreichend.«
    »Und wo soll die bitte liegen, diese deutsche Meile?« beharrte die Dame.
    »Im Mittelpunkt der Erde«, erläuterte Marzell. Er schien nicht im geringsten an einer solchen Stationierung zu zweifeln. »Das bietet sich doch an, nicht wahr? Zwar mag die Größe des Weltalls dazu verführen, einen weit entfernten Ort anzunehmen, auch zu Zeiten Lessius’. Aber warum sollte Gott das tun? Würden Sie eine Garage, ein Schwimmbecken, ein Gemüsebeet, einen Keller denn Kilometer von Ihrem Haus und Grundstück errichten lassen? Nur, weil der Raum dafür existiert. Würden Sie Ihre Toten in Neuseeland begraben, wenn Sie dazu in nächster Umgebung die Möglichkeit haben? Natürlich nicht. Warum also sollte die Hölle am Rande des Universums liegen oder gar außerhalb von diesem? Es ist viel weniger der Unwissenheit unserer Vorfahren zu verdanken, daß sie das Fegefeuer im Inneren des Planeten lokalisiert haben, als ein Zeichen ihrer Vernunft. Ich denke, diese Gelehrten lagen gar nicht so falsch mit ihrem geozentrischen Weltsystem.
    Nehmen Sie die Quantenmechanik, nehmen Sie die Vorstellung von einer Welt, in der nichts real ist, sofern es nicht beobachtet wird. Und wenn wir uns nun dazu durchringen, höchst alleine in diesem Universum zu sein – und nur Narren glauben etwas anderes –, dann sind wir auch die einzigen Beobachter. Alles geht von unserem Blick aus. Wir sitzen auf der Erde und indem wir ins All schauen, wird es überhaupt erst wirklich. Wenn das kein Mittelpunkt ist! Zwangsläufig muß das Purgatorium die Mitte der Mitte bilden.«
    »Aber diese Mitte der Mitte«, wandte Bobeck ein, »ist kaum real zu nennen, da wir den Erdkern gar nicht sehen können, sondern ihn bloß als gegeben annehmen.«
    »Ich habe nie behauptet, die Hölle sei real in einem weltlichen Sinn. Sie existiert, das ist etwas anderes. Könnten wir sie beobachten, wär’s wohl keine Hölle.«
    »Und trotzdem meinen Sie«, staunte der Rotgesichtige, »einen Durchmesser angeben zu können?«
    »Ich sprach von der Berechnung eines Gelehrten, die mir plausibel erscheint.«
    Erneut mischte sich Reisiger ein: »Francisco Ribera aber bemißt diesen Raum, glaube ich, mit zweihundert italienischen Meilen.«
    Reisigers Äußerung führte zu einer weiteren Verwunderung in der kleinen Runde. Nicht zuletzt, weil bereits durchgedrungen war, daß er irgend etwas mit Plattenspielern und Lautsprecherboxen zu tun hatte. Was ihn in den Augen dieser Leute nicht zwangsläufig zu einem Trottel machte, aber doch zu jemand, der theologischen Fragen fern stand. Und jetzt kam er mit seinen zweihundert italienischen Meilen daher.
    »Sie haben recht«, sagte Marzell und betrachtete Reisiger von der Seite her, als suche er in dessen Hinterkopf nach Drähten oder Fäden. Dann sagte er: »Ribera vertrat eine sehr generöse Auffassung. Ich nenne das Übertreibung. Südländische Übertreibung. Wenn in unseren Breiten etwas maßlos wirkt, spürt man sofort den südländischen Einfluß. Spürt sofort das Spanische oder Italienische. Diesen Hang, zwei oder drei Engel zu malen, wo einer vollkommen reichen würde.«
    »Ein wenig Pathos kann nicht schaden«, gab

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