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Der Umfang der Hoelle

Der Umfang der Hoelle

Titel: Der Umfang der Hoelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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mögen.
    Nachdem Reisiger noch eine Weile die Architektur des Turms studiert hatte, es aber vorzog, nicht in das Innere zu treten, ging er zurück zum Schloß. Im Park standen nun Leute herum, festlich gekleidet, die schmollenden Mädchen servierten Sekt. Wahrscheinlich keinen Sekt, sondern Champagner. Ein Unterschied, der Reisiger noch nie eingängig gewesen war. Er bekam von beidem Kopfschmerzen. In der Ferne erkannte er die hohe Gestalt Tom Pliskas, weshalb er überzeugt war, Vier würde sich nun zu seinem Herrchen begeben. Wenn es denn sein Herrchen war. Oder auch nur der Sekretär seines Herrchens. Das war ja noch gar nicht geklärt. Doch Vier blieb an der Seite Reisigers, was diesem ein zärtliches Gefühl abrang. Mit Menschen und Hunden war das so eine Sache. Sie verhielten sich wie Erde und Mond zueinander. Wobei der Hund natürlich den Part des Trabanten innehatte, kleiner gewachsen, die Rolle des Begleiters übernehmend, allerdings immer nur die eine Seite seines Wesens präsentierend. Auf der Rückseite vermuteten die meisten die Bestie, welche eben hin und wieder zum Ausbruch kam, so wie auch der Mond im Zuge einer Pendelbewegung kleine Teile seiner erdabgewandten Hälfte offenbarte. Im Falle von Kampfhunden allerdings war es so, daß diese fast ausschließlich aus ihren Pendelbewegungen zu bestehen schienen.
    Reisiger wich auf einen der seitlichen Wege aus, um der Gesellschaft zu entgehen. Er wollte sich noch umziehen, bevor er sich auf diese Leute einließ. Genaugenommen wollte er sich die Verpflichtung ersparen, ein Glas Champagner zu trinken. Über Umwege also erreichte er die Vorderseite des Gebäudes und gelangte unbehelligt in sein Zimmer, von dem aus er einen Blick nach unten warf, ohne aber auf den Balkon zu treten. Dabei meinte er, Tom Pliska sehe zu ihm herauf. Mit einem Gefühl leichter Panik schritt er zurück. Um nun festzustellen, daß Vier es sich unterdessen auf dem Bett bequem gemacht hatte. Nicht, daß Reisiger es leiden konnte, wenn Tiere, gleich welche, die Betten der Menschen okkupierten. Aber er ließ es geschehen. Und zwar mit der dummen Ausrede, es sei ja nicht wirklich sein Bett, auf dem Vier da liege.
    Reisiger sah auf die Uhr. Ihm blieb genügend Zeit. Siem Bobeck hatte ihn gebeten, sich spätestens um halb neun in den großen Kuppelsaal zu begeben, wo die eigentliche Festivität stattfinden würde. Dem Hund das Bett überlassend, setzte sich Reisiger in den zweihundert Jahre alten Sessel, plazierte seine Beine auf der Tischkante und rauchte eine Zigarette an, deren Asche er in einen Kristallbehälter klopfte, ohne echten Glauben, es handle sich tatsächlich um einen Aschenbecher. Sodann schlug er jenes schmale Heftchen auf, welches er im Nachtzug nach Linz entdeckt hatte und das an sich zu nehmen ihm wie ein höherer Befehl erschienen war. Gemeint ist Felix von Haugs therapeutische Schrift Über die Vergeßlichkeit und ihren heiligen Nutzen . Auch wenn Reisiger nicht wirklich an die Brauchbarkeit der darin aufgestellten Thesen glaubte, erschien ihm der Ansatz dennoch verführerisch. Das galt vor allem hinsichtlich des Umstands, einen Lottoschein samt maßgeblicher Quittung in Rauch aufgelöst zu haben. Die damit einhergehende Erinnerung hätte Reisiger nur allzu gerne im Mülleimer seines Bewußtseins entsorgt. Aber solche Mülleimer bestanden leider Gottes aus einer Unzahl von Löchern, sie bestanden aus mehr Löchern als sonstwas.
    Während Reisiger einen Satz las, der da lautete »Wir hängen an unseren Niederlagen, nicht weil wir sie wirklich nötig haben, nicht weil sie uns etwa menschlicher machen, sondern bloß, weil wir irrtümlicherweise meinen, sie würden uns ein Profil verleihen«, währenddessen also entsann er sich des Tages, da er mit einem bis dahin nie erlebten glückseligen Schaudern die Ziehung der Lottozahlen verfolgt hatte, um Ziffer für Ziffer die Übereinstimmung mit dem von ihm abgegebenen Tip festzustellen. Welch großartiger Augenblick, welch übermenschliches Empfinden, da man spürbar eins wurde mit seinem Schicksal. Natürlich war man immer eins mit seinem Schicksal, aber eben so, als läge man mit einer völlig fremden Person im Bett. Woche für Woche registrieren zu müssen, daß man ja bloß eine oder zwei oder, wenn’s hoch kam, drei bis vier der Lottozahlen erraten hatte, daß man im besten Fall Gewinne ausbezahlt bekam, die beleidigender waren als das pure Versagen, das alles war wenig dazu angetan, sich sein Schicksal als einen guten

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