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Der Umfang der Hoelle

Der Umfang der Hoelle

Titel: Der Umfang der Hoelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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Kostüme nicht die Figuren. Anders als mein verehrter Freund Bobeck, halte ich die Natur für auswechselbar. Wenn es Gott gefallen hätte, hätte er genausogut dumme Schimpansen und hochintelligente Meerschweinchen schaffen können. Ich bin mir sicher, der Mensch hätte in diesem Fall eine eingängige Beweislage geschaffen, die seine Abstammung vom Meerschweinchen begründet. Die Natur, die wir sehen, ist zwar logisch, aber beliebig. Und der pure Kosmos – da hat Herr Monod schon recht – ist natürlich tatsächlich gleichgültig. Gleichgültig, wie Bühnendekorationen gleichgültig sind. Der Mensch lebt vor dem Hintergrund dieser Gleichgültigkeit. Was nichts daran ändert, daß er praktisch in jeder Sekunde um eine richtige Entscheidung ringen muß. Die Aufgabe der Kirche ist es, ihm Entscheidungshilfen zu geben. Und die Aufgabe der Kunst in diesem Zusammenhang ist es, den Menschen daran zu erinnern, daß es keineswegs eine Lappalie darstellt, wofür er sich entscheidet.«
    »Was meinen Sie konkret?« fragte Reisiger. »Für oder gegen die Unzucht etwa?«
    »Die Bibel gibt die Richtung vor. Aber wie heißt es doch so schön: Ein Bild sagt mehr als tausend Worte. Was ist – wir hatten das heute ja schon – die Hölle denn wert, wenn wir kein Bild von ihr haben. Die pure Sprache ist wertlos. Wenn ich sage ›Tulpe‹, und mein Gesprächspartner hat noch nie eine Tulpe gesehen, und ich mich dann auch noch weigere, ihm eine zu zeigen oder wenigstens versuche, ihm eine zu beschreiben, sondern bloß von den chemischen Verbindungen spreche, die das Leben einer Tulpe ermöglichen, wird sich dieser Mensch wohl kaum etwas darunter vorstellen können. Keinesfalls wird er die Schönheit dieser Blume begreifen. Darum Bilder.«
    »Oder die Häßlichkeit einer solchen Blume«, wandte der Blumenhasser Reisiger ein.
    Marzell nickte und sagte: »Haben Sie ein Bild vor sich, haben Sie auch die Freiheit, sich zu entscheiden, ob Sie die Dinge als schön oder häßlich empfinden. Trocken gesprochen: Ob Sie in die Hölle kommen wollen oder nicht. Wozu natürlich nicht nur die Bilder vonnöten sind, sondern daß man sie auch ernst nimmt. Daran krankt unsere Zeit. Wir haben aufgehört, Bilder ernst zu nehmen. Bilder von der Hölle. Bilder von Gott. Bilder vom Teufel.«
    »Ein Bild aus irgendeinem heutigen Krieg«, meinte Fiedler, »ist doch eigentlich bestens geeignet, die Hölle zu zeichnen.«
    »Es ist aber nicht die Hölle«, entgegnete Marzell, »und es ist auch nicht der Teufel, der sich dahinter verbirgt. Diese Kriegsbilder sind schrecklich, aber auch banal. Verstümmelte Körper, zerfetzte Leiber, zerlumpte Kinder am Straßenrand, Soldaten auf Lastwägen, Exekutionen, Massengräber, Journalisten in internationalen Hotels, Diplomaten und Unterhändler, die durch die Gegend marschieren wie bei einer Betriebsbesichtigung. Das soll die Hölle sein? So ohne jede Phantasie. Einfach nur unmenschlich und ekelhaft. Bilder vom Krieg sind kein Ersatz für Bilder von der Hölle. Das ist ein typischer Irrtum unserer Zeit. Die Hölle ist eben nicht bloß nur schrecklich, sondern auch großartig. Das versteht sich doch eigentlich. Die Hölle auf Erden ist dagegen einfach nur trostlos, billig, fade.«
    »Das ist ganz schön kühn«, meinte Fiedler, »was Sie da sagen, Herr Pfarrer. Bilder aus dem Krieg als fade zu bezeichnen.«
    »Aber das sind sie nun mal. Ganz im Gegensatz zu einer malerischen Konkretisierung des Fegefeuers oder eines Höllensturzes.«
    Marzell erneuerte die Zigarette in seinem Mund und wandte sich an Claire Rubins Retter: »Was meinen Sie, Herr Reisiger? Sie scheinen mir viel eher bereit, die Notwendigkeit eines Altarbildes anzuerkennen.«
    Reisiger war sich jetzt nicht sicher, ob Marzell einfach nur eine Bestätigung seiner Anschauung forderte oder ob er vielmehr um eine Spende warb, eine vernünftige Spende, um einem Gemälde aus dem siebzehnten Jahrhundert zu neuer Pracht zu verhelfen. Zudem fürchtete Reisiger, daß man vielleicht auf Rubens zu sprechen kommen würde, der ja einiges für die Verbildlichung des Himmels und der Hölle geleistet hatte. Er wollte jetzt nichts Falsches sagen, nichts, was auf Rubens hätte zuführen können. Und nichts, was ihn verpflichtete, eine Spende zu leisten. Er haßte Spenden. Nicht aus Gier, sondern aus Prinzip. Unsicher verzog er das Gesicht und öffnete den Mund, ohne noch zu wissen, was er antworten würde. Doch ohnehin konnte er sich eine Antwort sparen, da im selben Moment ein

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