Der Umfang der Hoelle
verabschiedeten. Oder eben nicht verabschiedeten. Er konnte diese Frau gut leiden. Nach einer viertel Stunde kehrte er zu der feiernden Gesellschaft zurück.
Sofort, nachdem Reisiger den Prunksaal betreten hatte, hielt er Ausschau nach Marzell und fand ihn schließlich im Gespräch mit dem Rotgesichtigen, dem der Schweiß auf der Stirne stand. Hin und wieder zog der Mann ein weißes Stofftuch aus der Brusttasche und tupfte sich mit der Geste eines Malers, der Farbe verreibt, über das Gesicht. Pfarrer Marzell hingegen wirkte trocken wie ein Stück kaltes Metall. Er hatte die Hände verschränkt, fuhr nur ab und zu einzelne Finger aus, als setze er Beistriche und Klammern in das Gesagte hinein.
Als er Reisiger gewahrte, bedeutete er ihm, willkommen zu sein. Bei aller Freundlichkeit wirkte Marzell überheblich, sicher nicht wie der kleine Landpfarrer, der er de facto war. Eher wie der Berater eines Kardinals. Übrigens sollte er sehr viele Jahre später genau das werden, nicht Berater, sondern Kardinal. Ein höchst umstrittener, der jüngste aller Zeiten, aber wahrscheinlich auch der unbeliebteste. Ein kettenrauchender Kardinal. Er würde sich radikaler als alle anderen gegen jegliche Verbrüderung der christlichen Kirchen wenden und eher irgendeinen dahergelaufenen Islamistenführer empfangen als einen noch so hochrangigen Protestanten.
Die aufgeklärten Christen würden ihn hassen, die Konservativen unsicher mit dem Kopf wackeln, auch wegen der Kettenraucherei, die Medien sich begeistert echauffieren, nur die Purbacher würden bedingungslos hinter ihrem Kardinal stehen, wie sie ja auch hinter ihrem Habsburger standen.
Marzell, noch unwissend ob seiner großen Karriere, diese bloß wie einen rohen Brocken Gold in seinem Herzen tragend, wandte sich an Reisiger und legte dar: »Herr Fiedler hier, nicht bloß ein guter Christ, wie er versichert, sondern auch ein guter Katholik, erklärte mir gerade, daß er die Darstellung unseres Herrn wie auch die Darstellung unseres Herrn in Jesu Christi in Kunstwerken, ja, eigentlich jede religiöse Darstellung für überflüssig halte. Ganz gleich, ob diese Darstellung nun konkret oder abstrakt sei.
Für ihn sei das eine dumme Angewohnheit, die man sich sparen könne. Weshalb er sich weigere, einen vernünftigen Betrag für die Renovierung unseres Purbacher Altarbildes zu spenden, einer Arbeit aus dem siebzehnten Jahrhundert, nicht ohne Reiz, neben der Orgel das letzte Objekt dieser Kirche, das es aufwendig zu restaurieren gilt.
Es versteht sich, daß Herr Bobeck bereits einen Betrag zur Verfügung gestellt hat, einen vernünftigen eben. Denn ich wehre mich ganz einfach, um Groschen zu betteln. Nun, im Groschenbereich würde sich auch Herr Fiedler sicher nicht bewegen wollen. Er weigert sich bloß, für etwas zu spenden, daß er für verzichtbar hält.«
»Nichts gegen die Kunst«, kommentierte der Rotgesichtige vergnügt. »Das halbe Glück der Menschen steckt in ihr. Aber in Fragen der Religion funktioniert sie leider wie ein Brett, das uns die Sicht verstellt.«
»Das ist ein Standpunkt«, meinte Marzell, »dem ich vollkommen widerspreche. Nicht nur, weil ich die Verantwortung für ein Altarbild trage, dem die Jahre und die Feuchtigkeit zusetzen und das ich nicht ganz einfach zusammenrollen und in eine Ecke stellen kann. Sondern weil die Funktion solcher Bilder ganz entscheidend darin besteht, Gott zu fürchten, seine Gnade und Güte nicht als einen Persilschein mißzuverstehen. Was die Leute leider immer wieder tun. Sie meinen, daß der Allmächtige ungleich milder waltet, ungleich mehr Verständnis für jedes fehlerhafte Verhalten aufbringt als etwa unsere Kirche, als unsere Bischöfe, unsere Kardinäle und unser Papst. Das ist eine neuzeitliche Auffassung, diese obszöne Verwandlung Gottes in einen – ich darf das so sagen – in einen Softie, in eine völlig unpersönliche, diffuse Lichtgestalt, die alles und jeden versteht. Was natürlich Unsinn ist. Unsere ganze Existenz, die gesamte Schöpfung würde jegliche Bedeutung, jeglichen Wert verlieren, wäre es einerlei, was wir tun oder lassen. Ein Atheist darf das so sehen, er hat die Natur auf seiner Seite.«
Fiedler hielt dagegen, daß die Natur ja wohl auch ein Teil der Schöpfung sei.
»Die Natur ist eine Illusion«, postulierte Marzell. »Ein bloßer Hintergrund, wenn Sie so wollen. Großartig gestaltet, keine Frage, aber sicher nicht von fundamentaler Bedeutung. Ein Bühnenbild kann nicht das Stück ersetzen.
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