Der Umfang der Hoelle
ein permanentes Hin und Her entstand. Reisiger mußte sich gegen eine Säule drücken, um nicht im Weg zu stehen. Er bemerkte jetzt die kompakte Gestalt Susannes, die nun nicht mehr bediente, sondern mit sparsamen Gesten die an- und abrückenden Kolleginnen dirigierte. Es war offenkundig, daß sie hier die Chefin war, daß sie also nicht bloß auserwählt war, sich fremde Handtaschen einzuverleiben.
Als sich ihr Blick mit dem Reisigers traf, winkte sie ihm zu. Er war sich nicht sicher, was sie meinte. Ob sie ihn vielleicht bloß aufforderte, zurück in den Saal zu kehren, wo er als Gast hingehörte. Statt dessen ging er auf Susanne zu, den schmollenden Glasplattenträgerinnen ausweichend. Es war wie in einem dieser Hotelfilme, wo sich zwischen Küche und Speisesaal eine Verengung bildet, eine Klamm, in der das Ausweichen zum eigentlichen Thema des Lebens gerät.
Bei Susanne angekommen, entschuldigte sich Reisiger.
»Wofür?« fragte sie.
»Ich habe hier nichts zu suchen, denke ich. Das ist ja gewissermaßen die Küche.«
»Stellen Sie sich nicht an. Geben Sie mir lieber eine Zigarette.«
»Nicht schon wieder«, stöhnte Reisiger, sich an München erinnernd.
»Sie rauchen doch?«
»Das ist es nicht.«
»Sondern?«
»Nicht wichtig«, sagte Reisiger und öffnete seine Schachtel, der er einen leichten Ruck gab, sodaß zwei, drei Zigaretten aus ihrer Staffelung ausbrachen.
Susanne nahm sich eine. Gleichzeitig wies sie eine Kollegin an, sie zu vertreten, und sagte an Reisiger gewandt: »Kommen Sie mit. Hier kann ich nicht rauchen.«
»Natürlich nicht«, nickte Reisiger und folgte der Frau durch einen hohen, schmalen Gang in eine Folge von Kammern, in deren hinterster Susanne auf der Kante eines stuhllosen Tisches Platz nahm und sich Feuer geben ließ. Von der Decke hingen schwarze Stücke geräucherten Fleisches.
»Die ißt niemand mehr«, erklärte Susanne. »Reine Dekoration.«
Reisiger zeigte sich verwundert darüber, daß Susanne ausgerechnet während des größten Betriebes eine Pause nehme.
»Ich bin die erste, die auf der Matte steht, und die letzte, die ins Bett fällt. Ich muß Handtaschen entwenden, Launen aushalten, Katastrophen abwenden …«
»Was für Katastrophen?«
»Wenn Gäste sich danebenbenehmen. Wenn die Bobecks sich danebenbenehmen. Was auch schon mal vorkommen kann. Und so weiter. Ich darf mir also Pausen gönnen, wie es mir beliebt. Ich bin die einzige hier, die so ziemlich davor gefeit ist, zum Teufel gejagt zu werden.«
»Klingt nicht, als würden Sie Ihren Job lieben.«
»Die Bezahlung stimmt«, sagte Susanne. »Mehr darf man wohl nicht verlangen. Ich glaube nicht an Erfüllung im Beruf. Ich bin alt genug, um mir das abgeschminkt zu haben. Ich glaube an mein Bankkonto, solange es wächst und mir eine Zukunft als Privatier vorgaukelt. Als Privatgelehrte in Sachen Müßiggang. Früher war das freilich anders. Ich habe einige Jahre als Kinderkrankenschwester gearbeitet. Vornehmlich mit Frühgeborenen. Man kann da schon sein Herz verlieren. Aber was tut man dann, ausgelaugt, wie man ist, und hat nicht einmal mehr ein Herz.«
»Finden Sie das schrecklich?«
»Wieso schrecklich?«
»Sie sehen aus, als hätten Sie Kinder. Als stünden Sie auf der anderen Seite.«
»Zwei Stück. Aber die sind bereits erwachsen«, sagte Reisiger.
»Was machen Ihre Kinder?«
»Die Tochter lebt in Toronto … nein, in Vancouver, ich bringe diese Städte immer durcheinander. Sie brauchen nicht zu glauben, meine Tochter sei mir gleichgültig, nur, weil ich ein paar kanadische Dörfer nicht auseinanderhalten kann. Susanna war früher in Toronto, jetzt ist sie in Vancouver. So! Sie arbeitet als Stylistin. Ich weiß nicht wirklich, was ich mir darunter vorstellen muß. Es klingt immer, als bestünde ihr Job darin, aus Menschen erst richtige Menschen zu machen, wie in diesen Frauenmagazinen, wo man Waschweiber in Fotomodelle verwandelt.«
»Sind Waschweiber keine Menschen?«
»Ich weiß nicht«, sagte Reisiger. »Wenn Sie’s denn sind, wieso müssen Sie sich dann verwandeln?«
Susanne seufzte. Sie schien ihre Frage zu bereuen. Weshalb sie wieder nach Reisigers Tochter fragte.
»Ich weiß wenig von ihr«, gestand Reisiger. »Sie lebt mit einem Mann zusammen, den sie ernsthaft ihren Verlobten nennt. Unglaublich. Zu meiner Zeit dachte man, die letzten Verlobten seien nach dem zweiten Weltkrieg ausgestorben.«
»Es ist ein schöner Begriff«, bestätigte Susanne den Paradigmenwechsel. »Man verspricht
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