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Der Umfang der Hoelle

Der Umfang der Hoelle

Titel: Der Umfang der Hoelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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beträchtliches Geschrei die ganze Gesellschaft aus der Besinnlichkeit einzelner Gespräche herausriß.
    Dort, wo der Saal durch ein Trio hoher, gläserner Flügeltüren ins Freie führte, versuchte eine Gruppe von vier, fünf Leuten einzutreten und wurde dabei von zwei Männern aus dem Bobeckschen Personal gehindert. Der Wirbel, die Eruption der Stimmen, die Wörter, die wie Glas am Boden zerbrachen, das alles führte dazu, daß das Publikum die Form eines Ù um den Eingangsbereich bildete, während nun Siem Bobeck aus dem Inneren dieses Omegas heraus sich auf seine beiden Angestellten und die Gruppe unerwünschter Personen zubewegte.
    Auch für Reisiger war sofort klar, wer hier diesen netten Abend mittels seiner Anwesenheit torpedierte. Die Ähnlichkeit der beiden Frauen – einer jungen und einer älteren – mit Fred Semper war unübersehbar. Es konnte sich nur um die Mutter und die Schwester des Verstorbenen handeln. Was ja wiederum bedeutete, daß hier also die Schwester des Gastgebers aufgetreten war und mit einer Stimme, die sich wie ein großer Teller Spaghetti anhörte, nach ihrem Bruder verlangte. Was man sich nur schwer vorstellen konnte, daß diese beiden Personen dank eines Elternteils Geschwister waren. Rein äußerlich hatten sie gar nichts gemein.
    Die Frau trug ein teures Abendkleid, auch dieses in Schwarz gehalten. Was aber sicher nicht dazu diente, Claire Rubins Kleidervorschriften zu erfüllen. Zudem wirkte das Gewand völlig fremd an ihrem Körper. Weniger darum, weil die Frau ausgesprochen fett war und vor Erregung und Ärger glühte und schwitzte. Weniger darum, weil sie ein derbes, aufgequollenes Gesicht besaß. Wer war nicht alles derb und aufgequollen und fett und paßte dennoch ausgezeichnet in kostspielige Roben? Nein, der eigentliche Widerspruch ergab sich aus ihren Bewegungen, die förmlich durch das Kleid hindurchdrangen, wie außerhalb stattfindend. Die wuchtigen Schritte, selbst dann noch, wenn sie stand, somit also im Stehen schritt. Ähnlich wie Leute, die niemals den Mund halten, gleich wie beharrlich sie schweigen.
    Auch besaß sie eine spezielle Art, mit der Hüfte auszuschlagen und mit ihren nackten, fleischigen Armen zu schlenkern. Ihre überdeutliche, nervöse Brustatmung gab dem Betrachter das Gefühl, ihr Busen könnte demnächst platzen. Das alles hätte ganz ausgezeichnet etwa zu einer Ausstattung gepaßt, wie jene namenlose Frau im Zug nach Linz sie vorgeführt hatte. Oder auch zu einer Cowboy-Lady. Oder zu hohen Stiefeln. Selbst noch zu einem Minirock, wenn man einfach mutig genug war und die Bemerkungen von Rentnern und Halbwüchsigen ertrug. Dieses bodenlange, ärmellose, mal anliegende, mal flatterige, von der Hüfte abwärts sich kegelförmig ausbreitende Abendkleid aber, das zu allem Unglück am Saum über eine goldene Leiste verfügte, verkam an dieser Frau schlichtweg zum Monster. War wohl auch ein Monster, wäre dem Betrachter aber nicht als solches erschienen, hätte beispielsweise Claire Rubin es getragen.
    Frau Semper keifte. Ihr Keifen war nicht anders denn als virtuos zu bezeichnen. Weniger, was sie sagte, als wie sie es sagte, trommelnd, schießend, beißend. Keifende Spaghetti.
    Sie schien ein wenig älter als ihr Bruder und verkörperte sowohl das Urbild einer Matrone als auch das eines Proleten. Was denn auch hieß, daß ihre Erscheinung nicht eigentlich vulgär ausfiel – bei achtzig Prozent der Damen hier war das weit eher der Fall –, sondern schlichtweg primitiv. Primitiv in dem Sinn, daß sie absolut keine Regeln befolgte, nicht die der Höflichkeit oder Diplomatie, nicht die des guten Geschmacks, und auf eine komplizierte, seltene Weise nicht einmal die des schlechten Geschmacks, der ja immer noch einen Geschmack und damit eine Haltung darstellt. Denn obgleich sie natürlich dieses explizit scheußliche Kleid trug, dazu eine undefinierbare Frisur aus dunklen, aufgesteckten, an einigen Stellen dünn geflochtenen Haaren, eine Halskette mit einem wuchtigen goldenen Herzen, und obgleich es auch sein mochte, daß bei ihr zu Hause der fürchterlichste Nippes herumstand, glaubte zumindest Reisiger festzustellen, daß diese Frau in derartigen Dingen nicht wirklich lebte, sondern einzig und allein aus ihrer Keiferei heraus existierte. Und daß sie dieses scheußliche Abendkleid nur trug, weil es teuer war und eine ihrer Obsessionen nun mal darin bestand, Geld auszugeben. Wie das echte Proleten eben tun, indem sie Geld allein des Geldausgebens wegen

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