Der Umfang der Hoelle
verschleudern und sich somit in der fortschrittlichsten Weise aus einer Diskussion um Geschmäcker heraushalten. Diese Leute konnten als Punks oder Ladys auftreten, Haute Couture erstehen oder Billigware, schlank sein wie Cindy, fett wie Roseanne oder verkifft wie Kate, es ging ihnen so gut wie immer um das Erstehen einer Ware, um die Lust, ein Bankkonto zu leeren, Schulden zu machen, Bestellscheine auszufüllen, mit dem Finger auf Dinge zu zeigen und ihren Erwerb zu fordern, Verkäuferinnen und Verkäufern Beine zu machen, Stunden und Tage in Kaufhäusern und, noch lieber, in Einkaufszentren zuzubringen. Sie waren somit viel eher gute Konsumenten als jene Leute, die sich einbildeten, über einen eigenen Geschmack zu verfügen und also ewig auf der Suche waren nach einem bestimmten Stück, einem bestimmten Gegenstand, solcherart Unordnung schufen, Nerven strapazierten und Fußböden abtraten. Dabei blieben sie genaugenommen unproduktiv, da sich die Produktivität eines Konsumenten natürlich aus seinen Investitionen ergibt, und zwar aus einer raschen Folge derselbigen. Die Proleten, ob nun arme oder reiche, waren mit Sicherheit die besseren Konsumenten. Und die moderneren Menschen.
Das war natürlich nicht unbedingt die Meinung von Siem Bobecks Gästen, die mit ängstlicher Verachtung oder amüsiertem, geradezu ethnologischem Interesse die kleine Gruppe der Familie Semper betrachteten. Neben der Mutter die Tochter, eine hochaufgeschossene, knochige Brünette, die wie eine extreme Verdünnung der Mutter, wie ein magersüchtiges Beiboot auftrat, allerdings ein knielanges, an dünnen Trägern hängendes Kleid trug, das ganz hervorragend zu ihrer ausgezehrten Gestalt und dem hellen, feinen, im eigenen blassen Teint verschollenen Gesicht paßte. Die Tochter hatte etwas von Avantgarde an sich. Sie schien im Zustand permanenter Auflösung begriffen.
Dahinter der Vater mit zwei Burschen, seinen Söhnen, wie unschwer zu erkennen war. Ein wenig jünger, als Fred es gewesen war. Der Vater, Harald Semper, war ein Mann ohne Hals, nicht etwa, weil ein Doppelkinn den Hals weggeschwemmt hätte, sondern der Kopf ansatzlos auf dem breiten Brustkorb aufsaß. Selbst seine Freunde nannten ihn den »Mann ohne Hals«, was ihn nicht störte, weil er das besser fand, als ein Mann ohne Kopf dazustehen. Er besaß in keiner Weise die cholerische Ader seiner Frau. Er war eher so eine Art Exekutor. Wenn seine Frau zu sprechen aufgehört hatte, pflegte er zu handeln. Wobei er aber nie gewagt hätte, sie zu unterbrechen. Seine beiden Söhne waren so kräftig gebaut wie er selbst, aber beide um einen Kopf größer, beziehungsweise um einen Kopf und einen Hals. Bezüglich Hals waren sie nach der Mutter geraten. Ansonsten sahen sie aus, wie eben Siebenzehn-, Achtzehnjährige auszusehen pflegen: unfertig.
Bobecks Angestellte standen zu beiden Seiten dieses Familienverbandes und achteten darauf, daß eine gewisse Grenze des Eingangsbereiches nicht überschritten wurde. Hinter dieser unsichtbaren Grenze, auf ihren Beinen trappelnd, reckte Gerda Semper ihr breites, volles Kinn dem Bruder entgegen und schimpfte ihn einen verschissenen Mistkerl und was sie ihn sonst noch nannte.
Nein, das ist ungenau. Gerda Semper sprach in Wirklichkeit von einem »verschissenen, depilierten Mistkerl«, wobei sich das »depiliert«, also enthaart, wohl auf das Gerücht bezog, Bobeck würde sich seine Brust- und Beinhaare rasieren.
Gerda Semper liebte Fremdwörter. Es ist nämlich ein ziemlicher Irrtum, daß sich echte Proleten dadurch auszeichnen, keine Fremdwörter zu beherrschen oder sie immer nur falsch auszusprechen. Das ist der Irrtum von Leuten, die sich keine fünf Meter an Proleten herantrauen und von ihnen ein ungefähr so exaktes Bild haben wie von der erdabgewandten Seite des Mondes. Was andererseits nicht heißen soll, Proleten seien allesamt gebildet. Aber nicht wenige schätzen die waffenartige Bedeutung von Fremdwörtern, schätzen ihre verletzende Wirkung, diese gewisse stachelige Konstruktion. Und man kann ja wohl sagen, daß ein medizinischer Begriff wie »depiliert« ziemlich heftig und bösartig klingt, jedenfalls sehr viel mehr nach einem Bolzenschußgerät als das gebräuchliche »enthaart«.
Der depilierte Mistkerl überschritt nun diese Fünf-Meter-Distanz, trat nahe an seine Schwester heran und fragte in kontrolliert ruhigem Ton, was sie wolle.
»Was ich will? Ich will deiner Frau an die Gurgel springen. Wo ist sie? Wo versteckt sich diese
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