Der Umfang der Hoelle
komm, geh schon!«
Bobeck ging und man folgte ihm. Es war der gleiche Weg, den Reisiger nachmittags genommen hatte, um das Haus herum und durch den französischen Garten, der natürlich im lunaren Bühnenlicht eine immense Wirkung besaß, die Wirkung frischer, noch glänzender Tusche auf reinweißem Papier. Es schien weniger, als verursachten die Objekte Schatten, sondern als sei es umgekehrt, als würden aus den scharf umrissenen, ölig-schwarzen Schablonen die Objekte wie Stehaufmännchen herausschießen, freilich lange nicht so materiell und kompakt anmutend wie die sie entlassenden Schatten. Die ganze Welt war nun ein unsicheres, nachlässig zusammengezimmertes Stehaufmännchen, das aus seinem eigenen Schatten ragte. Unsicher, aber bockig. Zusammengezimmert, aber willensstark.
Als man nun jedoch in den Wald trat, ergab sich der dicht stehenden Bäume wegen eine beträchtliche Dunkelheit. Bobecks Jungen schalteten ihre Taschenlampen ein und brannten zwei gelbliche Lichtkegel in das Schwarz. Unwillkürlich rückte man näher aneinander, für einen Moment auf das Tier zurückgeworfen, das man war, nachtscheu. Tiere in Schuhen. Schuhe, die sich leider schlecht eigneten auf dem holprigen, von Wurzeln durchzogenen Waldweg. Einmal abgesehen von den Geräuschen, deren harmloser Ursprung in dieser wolf- und bärenlosen Gegend nichts an der kindlichen Beklemmung änderte, die auch Menschen empfanden, die Pistolen unter ihren Jacken trugen und soeben die Geiselnahme von hundertfünfzig Ehrengästen bewerkstelligt hatten. Jedenfalls ergab sich eine stumme Erleichterung sämtlicher Personen, als man der weißen Gestalt der Sternwarte ansichtig wurde, die nicht nur im Mondlicht stand, sondern auch im Licht, das aus dem Turminneren durch die ovalen, orange gefärbten Fensterluken strömte.
»Scheint jemand zu Hause zu sein«, bemerkte Gerda Semper.
Bobeck erklärte, er hätte Anweisung gegeben, das Licht anzudrehen, da ja für heute nacht ein Besuch geplant gewesen sei.
»Welcher nun auch stattfindet«, sagte Gerda Semper und trat als erste in den von zwei Fassadenleuchten beschienenen Eingangsbereich. Die Türe war unversperrt. Sie glitt zur Seite wie jemand, dem die Luft ausgeht. Die Semperbuben zogen ihre Waffen, ohne Hektik, bloß ein Minimum an Vorsicht einhaltend. Erneut wies Gerda ihren Halbbruder an, vorzugehen. Die anderen folgten paarweise. Es war wie bei einem Schulausflug.
Nachdem man einen kahlen, geschwungenen Korridor passiert hatte, kam die Gruppe in einen Raum, dessen Boden und Decke sowie drei Wände mit dem gleichen, rötlichbraunen Holz getäfelt waren, während die vierte Wand sich aus mächtigen, hellen Steinquadern zusammensetzte. In den Plafond waren drei Reihen kleiner Spots eingelassen. Ein leerer, sesselloser Tisch von demselben Holz wuchs altarartig aus dem Fußboden heraus.
»Mein Büro«, sagte Bobeck.
»Sieht unbenutzt aus«, meinte die Schwester.
»Mein unbenutztes Büro«, korrigierte Bobeck.
Durch einen seitlichen Spalt in der Steinwand, unauffällig wie der Durchgang zu einer Sakristei, begab man sich – einer nach dem anderen, so schmal war die Öffnung – in den eigentlichen Turmkörper, eine weiß getünchte Röhre, in deren ungefährer Mitte eine Säule nach oben führte, während die erstaunlich breite, eigentlich unnötig breite Treppe sich am Mauerwerk entlang nach oben drehte. Wobei dieser Aufgang ohne Geländer auskam, was so eigenwillig und unsinnig schien wie die monumentale Länge der Stufen. Weniger monumental und dafür abgesichert wäre besser gewesen. Aber da nun mal der englische Dichter John Malcolm Furness diesen Turm entworfen hatte, konnte man die Treppe als Ausdruck von dessen Persönlichkeit interpretieren: dramatisch und gefährdet.
Gerda Semper freilich meinte, daß Siem ein wenig von seinem vielen Geld dafür investieren könnte, diese »halbe« Treppe fertigstellen zu lassen.
»Das ist keine halbe Treppe, meine Liebe. Aber das kann ich dir nur schwerlich begreifbar machen. Gib einfach acht beim Hinaufsteigen.«
Gerda gab acht. Alle gaben acht und mühten sich die etwa fünfzehn Meter hinauf zum Kuppelraum, in den man durch einen hülsenförmigen, klaustrophob niedrigen Vorraum gelangte, sodaß sich eine große Erleichterung daraus ergab, in weiterer Folge in die hohe Beobachtungsstation einzutreten. Eine Erleichterung, die freilich sogleich der Überraschung wich, angesichts dessen, was man da sah. Auf dem Boden lag, sehr adrett und akkurat, wie eine
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