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Der Umfang der Hoelle

Der Umfang der Hoelle

Titel: Der Umfang der Hoelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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umgefallene Modepuppe, Tom Pliska. Er wirkte weniger tot als eingefroren. Aber auch Eingefrorene sind in der Regel tot. Und tot war Pliska auf jeden Fall. Neben seinem Kopf hatte sich eine Blutlache gebildet, die von einem Loch seitlich in der Stirn gespeist worden war. Über dem Toten, auf einem Sessel sitzend, mit beiden Händen eine Pistole haltend, als müsse man sie vor dem Auseinanderbrechen bewahren, die Pistole, sah man eine Frau, die jetzt ihren Kopf hob und in Richtung auf die Eingetretenen blickte. Jedoch ohne Zeichen echter Regung.
    »Mona!« rief Claire Rubin, endlich einmal fassungslos. Wobei sie immerhin einen gewissen Hang für unkonventionelle Rangordnungen beibehielt, nicht also nach dem Erschossenen fragte, sondern danach, warum Mona es entgegen ihrer Ankündigung unterlassen habe, nach Portugal zu fliegen.
    »Das hätte wenig gebracht«, antwortete Mona. »Portugal hätte mir nichts genützt. Es gibt keine Sicherheit, nirgends. Da ist es schon besser, sich den Dingen zu stellen.«
    »Meine Güte, was für Dinge denn?«
    »Dein Mann. Seine gottverdammten Experimente. Frag ihn doch mal.«
    »Moment noch«, unterbrach Gerda Semper und bewies nun ihre Gründlichkeit und Vorsicht, indem sie erstens – mit einer Unumwundenheit, mit der man Unkraut jätet – Mona die Pistole aus der Hand nahm und zweitens sich hinunter zu Tom Pliska beugte, seinen Puls befühlte, das Einschußloch betrachtete und dann erklärte, Bobecks Sekretär habe es nicht mehr eilig. Man könne also getrost weiterreden. Sie sei sehr gespannt, von was für Experimenten hier die Rede sei. Denn sie kenne ja den Hang ihres Bruders, alles und jeden in eine Versuchsordnung einzuspannen. Ein bestimmtes Verhalten zu erforschen, indem man es eigentlich erst begründet. Zuerst eine Welt, dann eine Wirklichkeit.
    »Das kann man wohl sagen«, äußerte Mona mit einem kleinen, bitteren Auflachen. Wie man beim Zähneziehen lacht.
    »Kein Wort, Mona«, befahl Siem Bobeck mit einer Stimme, die jetzt sehr viel härter war als seine gewohnte. Auch Bobeck besaß Nerven.
    »Was willst du tun, wenn ich rede?« fragte Mona, so schnippisch wie müde.
    »Das Licht ausdrehen«, sagte Bobeck.
    Es lag schon eine perfide Größe darin, daß Bobeck auch noch ankündigte, was er zu tun gedachte. Doch so verständlich diese Ankündigung auch ausgefallen war, konnte sich niemand etwas darunter vorstellen. Denn Bobeck stand ja mitten im Raum, nicht unweit seines wirklich elegant und kompakt und übrigens ziemlich russisch anmutenden Teleskops (und es war auch russisch). Er hielt sich somit fernab jeglicher Lichtschalter auf. Was also konnte er meinen?
    Bevor nun Harald Semper oder einer seiner Söhne sich so richtig in Bewegung setzen konnte, um Bobeck sicherheitshalber die Hand auf die Schulter zu legen, oder was auch immer zu unternehmen, vorher also sprach Bobeck in gewohnt ruhigem Ton den Satz: »Es ist ein Licht, das in meinem Mund erlöscht.«
    Das waren nun keineswegs seine eigenen Worte, wie hier alle dachten, außer natürlich seiner Frau, die schließlich seine Vorlieben kannte, wenn auch nicht alle. Nein, diese Zeilen stammten aus einem Gedicht Georg Trakls, des einzigen Dichters, den Bobeck gelten ließ, gerade wegen dessen Unverständlichkeit. Um etwas zu verstehen, meinte Bobeck, brauche es keine Dichtkunst. Freilich besaß jenes Es ist ein Licht, das in meinem Mund erlöscht in diesem Moment eine überaus verstehbare Bedeutung, denn augenblicklich gingen sämtliche Spots aus. Und da man sich ja in einer geschlossenen, fensterlosen Kuppel aufhielt, nützte das ganze Mondlicht nichts. Man steckte in vollkommener Dunkelheit.
    Sofort brach ein Geschrei los, und eine hektische Bewegung entstand. Immerhin ließen sich jene, die eine Waffe besaßen, nicht dazu hinreißen, sie auch zu benutzen, sondern zielten bloß in die Schwärze hinein. So groß der Raum war, war er viel zu klein für zehn Personen, von denen eine saß, eine lag und die restlichen – mit einer Ausnahme – blind durch den Raum ruderten, aneinanderstießen oder gegen Gegenstände prallten, auch darum, weil die Semperjungs ihre Taschenlampen im Eingangsbereich hatten liegenlassen.
    Es galt, Bobecks habhaft zu werden. Aber Bobeck war nun mal der, der diesen Raum wirklich kannte und sich auch ohne Licht in ihm zu bewegen verstand. Und als jetzt das Scheppern einer Metalltüre den Lärm aufgeregter Stimmen und unproduktiver Flüche durchbrach sowie in der Folge das unverkennbare Geräusch

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