Der Umfang der Hoelle
frühe Hitze, die manchem Hirn zu schaffen macht.«
Reisiger erklärte, daß keine Hitze seinem Hirn etwas anhaben könne. Vielmehr scheine es, daß er, Bobeck, lüge.
»Ich würde Sie jetzt gerne hinauswerfen lassen«, erklärte Bobeck in fortgesetzt ruhigem Ton, »aber ich fürchte, daß wird meine liebe Schwester nicht zulassen.«
»Richtig«, sagte die Schwester, »Herr Reisiger bleibt. Er wird mir immer sympathischer.«
Das war nicht gerade das, was Reisiger hören wollte. Er mußte damit rechnen, erneut in die Presse zu geraten, diesmal von Claire Rubin angeklagt, sich der völlig verrückten Chefin von Geiselnehmern angebiedert zu haben.
Nichtsdestotrotz behielt Reisiger den einmal gewählten Weg bei und überlegte laut, ob es nicht das beste sei, diese ganze Veranstaltung – womit natürlich nicht auch die hundertfünfzig Telefonierer gemeint seien – in das Gebäude der Sternwarte zu verlegen.
»Was soll das bringen?« fragte Bobeck.
»Sie hatten doch ohnehin vor, mir heute nacht diesen Turm zu zeigen. Daran sollten wir festhalten. Und die Möglichkeit nutzen, nachzusehen. Nach Mona, nach einem Hinweis. Sie können mir erzählen, was Sie wollen, aber die Frau, die ich sah, kam aus dem Turm. Verwirrt, aber nicht verirrt.«
»Das wäre absurd«, meinte Claire Rubin, »zu allem Überfluß auch noch durch den Wald zu stapfen, um dieses lächerliche Theater zwischen Fernrohren fortzusetzen. Wieviel Groteske muß ich denn ertragen?«
Gerda Semper aber fand Reisigers Idee durchaus ansprechend. Und sie war es nun mal, die hier das Sagen hatte. Und die nun auch bestimmte, daß man augenblicklich zur Sternwarte aufbreche. Jetzt, wo dies noch möglich sei, jetzt, wo noch keine Einsatzkommandos den Weg verstellten.
»Vielleicht tun sie das ja längst«, meinte Claire Rubin.
Gerda schüttelte den Kopf, stieß sich vom Tisch ab und sagte: »So was dauert.«
Man begab sich zurück in den Prunksaal. Gerda voran, an ihrer Seite, von ihr selbst dazu aufgefordert, Pfarrer Marzell, der sein Versprechen hielt und eisern schwieg. In diesem Schweigen thronend, wirkte er wissend und abgehoben, jedenfalls näher bei Gott als bei den Menschen, deren Seelen zu pflegen ihn seine Kirche leichthin beauftragt hatte.
Als nun die meisten der hundertfünfzig Gäste der massiven Gestalt Gerda Sempers ansichtig wurden, hoben sie ihre Stimmen an, drückten ihre Handys stärker gegen Ohren und Backen und bemühten sich ganz allgemein um ein Bild intensiver, engagierter Telefoniererei.
Gerda Semper nickte der telefonierenden Menschenmasse zu, als handle es sich um ihre Untergebenen, mit deren Arbeit sie einigermaßen zufrieden war. Dann trat sie an einen der jugendlichen Waffenträger und gab ihm Anweisungen. Gleichzeitig sah sie hinauf zu jenem Werbeplakat, das ja noch immer von der Kuppel hing, und meinte: »Scheußlich. Aber schön scheußlich, das muß man zugeben.«
Finster war’s, der Mond schien helle …
Gerda kehrte zurück zu der kleinen Gruppe, die aus den Sempers und den Bobecks, aus Marzell und Reisiger bestand und die sich nun ins Freie bewegte, hinaus auf die vorgelagerte Terrasse, wo das Saallicht wie ein mächtiger Bauch nach außen hing. Man stieg die Treppen hinab, aus dem Kunstlicht ins Mondlicht, dessen Verursacher jetzt hoch oben stand. Die beiden Semperburschen öffneten die Heckklappe eines Kombis und holten Taschenlampen hervor, die man aber zunächst einmal außer Betrieb ließ, so hell war es, so klar lagen die Dinge einem vor Augen. In der Ferne erkannte Reisiger den alten Citroën, der im Mondlicht wie einer dieser Filmstars anmutete, wenn sie nach Cannes kommen und die Hände heben, als würden sie auf eine Verfassung schwören.
Die Ansicht dieses Autos erinnerte daran, daß jemand fehlte, beziehungsweise fehlten zwei: Tom Pliska und der Dreibeiner Vier. Soweit Reisiger gesehen hatte, war Bobecks Sekretär zum Zeitpunkt der Geiselnahme nicht mehr unter den Gästen gewesen. Und auch der Hund des Hauses hatte sich im Laufe des Abends zurückgezogen. Was auch immer das bedeutete. Vielleicht waren Pliska und Vier schlichtweg schlafen gegangen. Jedenfalls unterließ es Reisiger, nach dem Sekretär und dem Hund zu fragen. Es war nicht nötig, eine weitere Beunruhigung auszulösen.
»Es ist dein Grundstück, Siem«, sagte Bobecks Schwester, »kannst ruhig vorausgehen.«
»Wie?« tat Bobeck staunend. »Fürchtest du dich vor Fallen?«
»Na, sagen wir, ich tät dir jede Art von Falle zutrauen. Also
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