Der Umfang der Hoelle
einer Verriegelung zu hören war, mußte allen klar sein, daß Siem Bobeck mit sicherem Schritt zu jener Türe gelangt war, die den Kuppelraum mit der abwärts führenden Treppe verband. Und daß er soeben diese Türe von außen versperrt hatte. Eine Erkenntnis, die immerhin dazu führte, daß fürs erste ein jeder seinen Mund hielt, die Arme herunternahm und stehen blieb, wo er sich gerade befand.
Es war als erste Gerda Semper, die wieder zu ihrer Stimme zurückfand und diese an ihre Schwägerin richtete: »Was ist los, Claire? Mach doch endlich das verdammte Licht an.«
»Fick dich selbst«, meinte Claire Rubin entgegen ihrer Anschauung, daß ordinär zu sein nicht schmücke. Um dann wenigstens zu gestehen, keine Ahnung zu haben, wie das zu bewerkstelligen sei. Die Sternwarte wäre allein ein Faible ihres Mannes. Und offensichtlich mit einem akustischen Lichtschalter ausgestattet, dessen Programmierung sie nicht kenne. Möglicherweise reagiere die Lichtversorgung allein auf Siems Stimme, wenn dieser eine bestimmte Wortfolge benutze. Vielleicht aber genüge die richtige Wortfolge, egal von wem sie gesprochen werde. Jedenfalls könne sie mit einiger Sicherheit sagen, daß Siem beim Ausschalten ein Zitat aus einem Gedicht Trakls verwendet habe.
»Welches Gedicht?« fragte Reisiger, als sei er eben erwacht.
»Keine Ahnung. Ich sagte, es ist eine Vermutung. Siem liebt Trakl. Gott weiß warum. Er haßt die Literatur, aber er liebt Trakl. Und daß ein Licht in einem Mund erlöscht, klingt, finde ich, ziemlich traklisch.«
»Ziemlich«, bestätigte Reisiger und spekulierte, daß dann wohl auch zum Lichtandrehen Trakl herhalten müsse. »Unglaublich! Wie in einem dummen Märchen.«
»High-Tech«, sagte die Sempersche Tochter.
»Red, wenn du gefragt wirst«, bestimmte ihre Mutter.
So standen sie nun alle da, eingehüllt in die Dunkelheit wie in einen Stein, ahnungslos in bezug auf Trakl und irgendwelche Passagen, das Aufflackern eines Lichts betreffend, und wußten nicht weiter.
Nachdem dieses Schweigen und Nichtstun begann, an den Nerven der Eingeschlossenen zu zerren, versuchte einer nach dem anderen mit irgendwelchen Worten, Geräuschen, dem Klatschen der Hände, dem Aufstampfen der Füße, mit Flüchen und Gebeten, mal im strengen, mal im weinerlichen Ton das Licht dazu zu bringen, anzugehen. Allein es nützte nichts. Das Licht verhielt sich unnachgiebig. Der einzige übrigens, der auf eine diesbezügliche Bemühung verzichtete, war Pfarrer Marzell. Er war sich wohl zu gut für die Auseinandersetzung mit einer bockigen Elektrik. Es war also jemand anders (einer der Sempersöhne), der jenen populären biblischen Befehl, daß es Licht werde, aussprach. Was die ruhenden Leuchtkörper ebenso unbeeindruckt ließ wie etwa Reisigers lateinischer Ausruf »L¯ucetius!«, ein Beiname Jupiters, oder Claire Rubins Selbstzitat, indem sie eines ihrer Chansons ansang: Der Mann, der zwischen Kerzen stand (sie hatte gar nichts begriffen, wenn sie allen Ernstes meinte, ihr Mann liebe sie so sehr, eins ihrer Lieder zum Lichtandrehen zu verwenden).
»Hören wir mit dem Unsinn auf«, schlug schließlich Gerda Semper vor und schlug auch vor, die Situation auf vernünftige Weise zu bereden. Als erstes würde sie interessieren, von welchem Experiment Mona gesprochen habe. Offensichtlich kein ganz legales, wenn man die beträchtliche Reaktion ihres Bruders bedenke.
»Also, du hast es nötig«, ärgerte sich Claire Rubin und erwähnte das Faktum hundertfünfzig bedrohter Ehrengäste.
»Das ist etwas anderes, das ist Notwehr. Also, Mona, reden Sie.«
Regina
Und Mona redete. Mona Herzig. Herzig war ein Name, der nicht wirklich zu ihr paßte, zu ihrer gleichzeitig verschreckten, distanzierten, aber auch unterkühlten, sachlichen Art. Ihr fehlte völlig das Glamouröse der Rubin. Ihre Vornehmheit war eine andere, weniger auffällige. Architektonisch gesprochen, besaß sie etwas von diesen Gebäuden, die ohne jeden Firlefanz auskommen, durchdacht sind, aber im Zuge ihrer ganzen Durchdachtheit ziemlich leblos anmuten. Gelungen, aber fade. Mona Herzig, zehn Jahre jünger als Claire Rubin, war schon Assistentin Bobecks gewesen, als dieser noch einen Lehrstuhl besessen hatte, wie man ein schönes, großes Auto besitzt, mit dem es sich aber nicht wirklich gut fahren läßt. Der Lehrstuhl war ihm trotz aller Größe eng erschienen, unhandlich und langsam. Er hatte dann, bereits im Besitz seiner Modemillionen, ein privates Institut gegründet,
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