Der Umweg nach Santiago
umfliege ich es und sehe, was die Krähe sieht, und beneide die Krähe.
In den Zeitungen und im Fernsehen wütet der Bürgerkrieg, eine Wiederholungsübung. Die Regierung beteiligt sich kaum daran, sie hat offensichtlich keine Lust, einen Stein des Anstoßes zu bewegen. Ich habe keinen Fernseher in meinem Zimmer, im Aufenthaltsraum des Hotels schauen meist nur wenig Leute und die reagieren nicht, die meisten sind nicht alt genug, um dabeigewesen zu sein, und manche strahlen auch eine Stimmung aus, als gehöre dieser Krieg in die Prähistorie, vorbei und vergessen. Vielleicht haben viele Spanier auch gelernt, dieses Thema zu meiden, weil der Riß nicht nur quer durch Gemeinschaften, sondern auch quer durch Familien ging.
In dem Dorf, in dem ich immer den Sommer verbringe, hängt an der Kirchenmauer eine kleine verwitterte Gedenktafel mit den Namen von sechs Priestern, die in diesem Krieg erschossen wurden. Niemand spricht darüber, aber an den Namen sehe ich, daß es die Namen von Familien sind, die hier immer noch leben. Dieselbe Gedenktafel befindet sich also auch in ihren Köpfen, und das ist natürlich der Grund, weshalb diese Regierung sichnicht um das Gedenken kümmert: Des Krieges wird gedacht, aber schweigend.
Außerdem hat sie andere Sorgen. Terrorismus, neue Tote. Diesmal sind es keine alten Fotos, die in den Zeitungen stehen, sondern neue Bilder von Tod und Zerstörung. Einer der Gründe, weshalb die Nationalisten 1936 den Aufstand begannen, bestand darin, die in ihren Augen verderblichen Autonomiebestrebungen der einzelnen spanischen Länder im Keim zu ersticken. Es sind die Verlierer von damals, die heute an der Macht sind. Andere Männer, andere Verhältnisse. Aber im Grunde müssen sie noch immer dieselben Fragen beantworten, weil sich die Frage im Kern nicht geändert hat. Der Staat und die Länder. Das Dossier beginnt bereits bei den asturischen Königen oder sogar noch früher. Es enthält Tausende von Namen, Privilegien, Taifas, Grafschaften, Königreiche, Autonomien.
Vor fünfhundert Jahren glaubten die Katholischen Könige, die selbst Könige von zwei Ländern waren, daß sie einen Staat gegründet hätten, und das war auch so. Aber er zeigt bis heute einen Riß.
1986
E IN RÄTSEL FÜR K REON
Eine Gruppe von Männern und Frauen bei einem Begräbnis. Das sind meist Bilder von relativer Einfachheit: Der Tod wird durch den Sarg verkörpert. Ein Sarg ohne einen Toten ist das Symbol des Todes, das sieht man heutzutage gelegentlich bei Demonstrationen. Liegt dagegen ein Toter darin, so geht es, könnte man sagen, eher um den Tod selbst. In dem Sarg, von dem ich spreche, liegt jemand, und doch geht es nicht nur um ein Begräbnis, sondern auch um eine Demonstration. Beweisen läßt es sich vielleicht nicht, daß eine Leiche darin liegt, aber es gibt Anzeichen dafür. Der Sarg ruht auf den Schultern mehrerer Menschen, er ist zwar nicht schwer, aber trotzdem. Und dann die Gesichter der Umstehenden. Nein, Umstehende ist nicht das richtige Wort, auch wenn sie dort herumstehen. Sie haben nicht das Zufällige von Umstehenden, sie gehören dazu. Sie sind, in gewissem Sinne, Familie. Man kann sich seine Familie auch aussuchen.
Die Männer sind nicht dem Anlaß gemäß gekleidet. Sie haben hellfarbige Schuhe an, wie Jogger sie tragen, mit dicken, geriffelten Sohlen. Hemden mit kurzen oder aufgekrempelten Ärmeln, die über die Hose hängen. Die Frauen, die man auf dem Foto sieht, sind meist älter, Deux-pièces, geblümte Kleider oder so etwas Ähnliches, Handtaschen, die ein wenig verrutscht sind, weil sie die Arme mit geballter Faust erhoben haben. Meine Mutter würde sie als Damen bezeichnen. Bei manchen ist es die rechte, bei anderen die linke Faust. Ansonsten das übliche Beiwerk: Pflaster, ein Baum, ein Fabrikschornstein, ein paar kunterbunte Gebäude.
Die Täuschung von Fotos liegt in ihrem Stillstand, was geschah, als sich dieses Foto zu bewegen begann, lese ich in der Zeitung. Der Tote in dem Sarg ist/war Rafael Etxebeste. Sein Gesicht ist daneben abgebildet. Ein Mann in den Dreißigern, kahl werdend, mehr Haare seitlich als oben. Die Seitenhaare, schwarz, gehen nahtlos in einen schwarzen Bart ohne Mund über, abereine Nuance im Schwarz zeigt die Form des fehlenden Mundes an, starr, mit herabgezogenen Mundwinkeln. Seltsam, wie ein Foto einen nach dem Tod noch ausliefert. Große Augen, ebenfalls schwarz. Hohe weiße Stirn. Ein Gesicht, das nicht aufhört zu schauen. Gestern habe ich es auch schon
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