Der Umweg nach Santiago
Teppichklopferform getrockneten, steinharten Geflechten von congrio , Seeaal, Märkte mit Speck, Schinken, scharfen Käsesorten und Honig. Ländlich, so wirkt es, bäuerlich, nicht mondän, Männer mit harten Schädeln und Frauen mit Umschlagtüchern, die aus dem Umland gekommen sind, um zu kaufen und zu verkaufen, Messer, Seile, gesalzene Sardinen und getrocknete Bohnen, Waren.
Und inmitten all dieses Niederen und Kleinen die Kathedrale, ganz ruhig und still, eine Erinnerung.
Immer ist hier Musik zu hören, nicht aufdringlich, aber doch so, daß man sofort von der Außenwelt abgeschnitten wird. Das war man ohnehin schon, doch nun auf zweifache Weise. Beim vorigen Mal war es Monteverdi, das paßt mehr zur Intimität des Bauwerks. Jetzt ist es Händel, und gar der Messias , dieser triumphale Jagdschrei, den ich immer in meinem Walkman mitnehme, wenn ich einen langen Flug vor mir habe, weil er so gut zur Ekstase der zehntausend Meter Höhe paßt, aber dadurch sehe ich die Kirche jetzt doch mit anderen Augen, denn sofort stellt sich der gleiche Mechanismus ein, ich will hinauf, in die Lüfte, an diesen Fenstern vorbeifliegen, deren Bilder ich mir sonst in einem Buch ansehen muß, weil sie so hoch und so weit entfernt sind.
Für wen ist der obere Teil von Kathedralen eigentlich gedacht? Fürs Auge vermutlich, Proportion, Raum, doch der letzte, deroben war, war ein Maurer, der seit Jahrhunderten tot ist. Wenn ich nun da hinauf wollte? Und ich stelle mir vor, wie ich mit langsamem Flügelschlag unter diesen hohen Kreuzgewölben hindurchfliege, vorbei an den bedeutungs- und geschichtsgetränkten Fenstern und Rosetten, im Widerschein ihrer Farben, ein tropischer Engel aus Holland, der dem Auf und Ab der Gewölbebögen folgt, beim Stille ausstrahlenden Altaraufsatz ein wenig tiefer geht, von oben auf die gisants herunterblickt, die auf ihren gotischen Sarkophagen warten, bis sie sich erheben dürfen, in absoluter Stille durch die dünne Luft schwebt, die dort oben sein muß, und dann plötzlich wieder von derselben Turbulenz erfaßt wird, die die Gewänder der Barockfiguren so komisch hochbläst, warum geht das nicht?
Aber es geht nicht, und also bleibe ich unten, ein gescheiterter Engel und ängstlicher Ikarus, und blicke von dort hinauf zur Glut der Fenster. Es gibt keine Kirche, die im Verhältnis zum Stein so viele Fenster hat. Kenner sind der Meinung, das Bauwerk hätte schon längst einstürzen müssen, und damit ist diese Kirche selbst so etwas wie ein Engel aus Stein und Glas, eine Form von Heiligkeit. Angelo Roncalli, der hier war, bevor er Papst in Rom wurde, hat es kürzer ausgedrückt: »Dieses Gebäude besitzt mehr Glas als Stein, mehr Licht als Glas und mehr Glauben als Licht.« Letzteres weiß ich nicht, aber durch dieses Licht gehe ich jetzt, wenn ich schon nicht fliegen darf, farbiges, gefiltertes Licht, das es so nirgendwo sonst gibt, man wird darin aufgenommen, es tut einem etwas an, und das ist dann doch noch eine Art des Fliegens, ein Teil des Gewichts ist von einem abgefallen.
Ein Besuch bei alten Bekannten, das ist es auch. Ich gehe zur Vierung, wo das Rad der Südrosette um mich herumrollt, und biege nach rechts, dort liegt mein Freund mit der Mitra, der Tote, den ich wiedersehen will, mit seinem gebrochenen Stab und den fehlenden Füßen, mit dem östlichen, so zufriedenen Lächeln auf den steinernen Lippen, schon fast wie ein Buddha. Keine Sekunde ist vergangen in dem Jahr, in dem ich nicht hier war, er hat sich nicht gerührt, der Löwe an seiner Seite schaut mich mit seinemvom Faulbrand zerfressenen Kopf noch genauso wütend und verzweifelt an. Im Kreuzgang rund um den Klosterhof finde ich die anderen, das Medaillon der verschleierten Tamar als Schlußstein zwischen den ausfächernden Rippen, der Tod in einem Karree aus Rippen gefangen, der mich so abwesend anschaut, als habe er keine Zeit für mich, und dann, mitten auf dem von der Sonne platt gebrannten Boden des Klosterhofs, als dürfe ich doch noch fliegen, die beiden abgenommenen Turmspitzen, die dort liegen, als wären sie herabgestürzt.
Vorsichtig gehe ich auf sie zu, als wäre es nicht erlaubt, und vielleicht ist es auch nicht erlaubt. Dies ist nicht für hier unten gedacht, sondern für oben, um aus der Ferne gesehen zu werden, nicht, damit ich hier jede Form groß und plump erkenne, es ist als Filigran hoch oben gedacht, es will Hunderte von Metern von meinem Auge entfernt sein, und jetzt wird es mit meinem Maß gemessen. Gehend
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