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Der Umweg nach Santiago

Der Umweg nach Santiago

Titel: Der Umweg nach Santiago Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
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non esisteva. Unzählbar waren die Formen und Male, die ich starb. Innombrables furent mes formes et mes morts. Ich war Homer; bald bin ich niemand, wie Odysseus; bald bin ich jedermann: dann bin ich tot. J’ai été Homère; bientôt, je serai Personne, comme Ulysse; bientôt, je serai tout le monde: je serai mort. Er hat sich unsichtbar gemacht. Se ha hecho invisible. Unermüdlicher Träumeweber. Tireless weaver of dreams. Der Bibliothekar von Babel. Le bibliothécaire de Babel. Der Tod, ich will nichts anderes als sie (ich lasse die weibliche Form stehen, CN ), ich will sie ganz, abstrakt. Die beiden Daten auf dem Grabstein. La mort, je ne veux qu’elle et je la veux totale, abstraite. Les deux dates sur la dalle . Und, als hätte diese Zeitung sechzig Jahre lang einen Wettstreit mitverfolgt, auf der Titelseite der L ibération ; Jorge Luis Borges a trouvé la sortie: BORGES HAT DEN AUSGANG GEFUNDEN ! Es sind immer die anderen, die die Geschichten beenden, aber nur, wenn die Geschichten es wert sind, beendet zu werden. Und dann ist man erst richtig tot: Jeder geht mit deinen Worten hausieren. Danach folgt das Fegefeuer der völligen Abwesenheit. Die Presse hat einen ausgequetscht. Für den Tod gibt es keine Steigerung, nur für den öffentlichen: Wenn die Nachricht ausgeschlachtet ist, ist der Tote plötzlich viel toter. Wer ihn bisher nicht las, liest ihn auch jetzt nicht, die anderen sitzen mit den Worten da, die keine Fortsetzung mehr finden werden. Dann tritt das Audensche Gesetz in Kraft: Die Leser sind der Schriftsteller geworden, der Schriftsteller wird seine Leser.
    Mich verbindet mit ihm, was einen mit geliebten Toten verbindet. Man kann sich nicht vorstellen, daß sie wirklich tot sind. In den merkwürdigsten Augenblicken denkt man: Wie er sich wohl fühlt? Wie denkt er darüber? Gestern abend gab es im Fernsehen eine Sendung über die Ketzerbewegung des Priscillian im vierten Jahrhundert, eine Bewegung, die sich zum großen Teil in den Landschaften abspielte, in denen ich mich gerade aufhalte, im nordspanischen Galicien, das, wie Irland, ohnehin für alles prädestiniertist, was mit Geheimnissen und Zauberei zu tun hat. Der Film war zum Teil in einer herrlichen, riesengroßen Bibliothek gedreht worden, sprach von zeitgenössischen lateinischen Kommentaren des Sulpicius Severus, von gnostischer Symbolik und Zahlenmystik, vom Tod, der für die Kelten nichts weiter als eine Reise war, und plötzlich kam mir der Gedanke, das alles sei Fiktion, eine von Borges’ eklektischen Phantasien, allesamt erfunden und erlogen, diesen lateinischen Kommentar von Severus habe es nie gegeben, kurz und gut, ich hatte Augenblicke von entzücktem Zweifel, weil alles genausogut nicht wahr hätte sein können, weil er Fiktion nun einmal wie Wirklichkeit behandelte, am liebsten mit möglichst vielen falschen Quellen und Autorennamen, so daß die Wirklichkeit in einigen seiner Kommentare in ein Gespinst von Erfindung oder zumindest von Zweifel eingehüllt war.
    Zu meiner Zeit gab es an niederländischen Gymnasien keinen Philosophieunterricht, das einzige, was in meinem Fall dem in etwa nahekam, war der Religionsunterricht mit solch merkwürdigen kasuistischen Exzessen wie: »Wenn jemand einen Autounfall hat, und er liegt an einer Straßenecke im Sterben, und ein exkommunizierter Priester kommt vorbei, und der Sterbende will beichten, ist diese Beichte dann trotzdem gültig (Antwort: ja)« – aber solche scholastischen Haarspaltereien halfen mir ebensowenig wie die thomistischen Gottesbeweise, um Borges’ auf Berkeley und Hume basierenden Hirngespinsten über Sein und Nicht-Sein auch nur einigermaßen gewachsen zu sein. Später gewöhnt man sich daran (wiewohl nie ganz), aber ich erinnere mich noch gut an dieses schwindelerregende Angstgefühl bei der Vorstellung, die Wirklichkeit, die sichtbaren Dinge, bestünden einzig und allein dank unserer Wahrnehmung, jedenfalls als Borges in einem anderen Essay behauptete, das sei noch nicht alles, auch die Zeit existiere nicht. Das Argument, das er anführte, stammte von Sextus Empiricus, der in seinen Adversus Mathematicos , XI , 197, abstritt, es gebe eine Vergangenheit, weil sie bereits jetzt nicht mehr da sei, während es gleichzeitig auchkeine Zukunft geben könne, weil die noch nicht gekommen sei. Außerdem behauptete er, die Gegenwart müsse teilbar oder unteilbar sein, um zu existieren. Aber sie sei nicht unteilbar, denn dann habe sie keinen Anfang, der mit der Vergangenheit,

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