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Der Umweg nach Santiago

Der Umweg nach Santiago

Titel: Der Umweg nach Santiago Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
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der Dächer unter mir flimmert wie ein alter Schwarzweißfilm. Nichts bewegt sich außer diesem Widerschein der Hitze. Ich steige hinter den Häusern den Berg hinauf und setze mich auf eine Wiese neben ein paar Bienenkörbe. Valle del Silencio. Es stimmt. Dieses Dorfliegt darin eingenistet wie ein Raubvogelhorst. In dem Buch, das ich gekauft habe, sehe ich das momentan schlafende Leben auf Fotos. Ein paar Männer bei einem seltsamen Kegelspiel. Eine Frau, die Milch in eine zugenähte Schafshaut schüttet, um Butter daraus zu machen. Männer, die mit Dreschflegeln auf das spärliche Korn einschlagen. Alte Wörter, alle noch gültig, Spreu, Flegel, Hechel, Schöpf brunnen. Das letzte Mal, als ich auf dieser Reise einen Dreschflegel gesehen habe, war auf einem romanischen Wandgemälde in der Kirche San Isidoro in León, eine allegorische Darstellung des Monats August. Das war im zwölften Jahrhundert, eine Weile kann es noch weitergehen. In Peñalba gibt es noch keine Kanalisation und kein Telefon. Elektrizität seit 1977. 1978 hat man den Weg für Autos befahrbar gemacht, allerdings ist er nicht zu jeder Jahreszeit gleich gut. Wie es hier im Winter sein muß, wage ich mir nicht vorzustellen.
    Gegen vier Uhr, als die Mittagshitze auch mich aufs Gras niedergestreckt hat, sehe ich zwischen Kleestengeln, wie ein alter Mann langsam auf die Kirche zugeht. Er hat mich natürlich längst gesehen, alle haben gefräßig durch ihre Fensterläden auf den so eßbaren Fremden gelauert, aber niemand hat sich gerührt. Jetzt sitzen sie plötzlich da, alte Frauen, schon dreihundert Jahre tot, aber immer noch stickend, Männer, die sich über die schrecklichen Ereignisse in Frankreich unterhalten, wo sie den König enthauptet haben, die beiden Kühe, die einen neuen, duftenden Läufer vor mir ausgelegt haben, um den ich einen Bogen machen muß, um zur Kirche zu gelangen. Er ist mürrisch, der Alte, die Kirche wird erst um fünf geöffnet, aber er hat den Schlüssel schon in der Hand. Knorrige Hand, heißt das. Und rostiger Schlüssel. Als er die Kirchentür damit öffnet, fällt ein doppelter arabischer Schatten auf den staubigen Kirchenboden, sehr hübsch. Drinnen setzen andere Bögen, jetzt eher westgotisch, das Spiel fort. Das Drinnen wirkt klein, einsam, geschützt. Die Distanz zu dem triumphalen Mastodonten von Astorga läßt sich in Lichtjahren nicht messen. Auch Glaube kann einen anderen Geschmack oder ein spezifisches Gewicht annehmen, das an Hochmut grenzt. Das Gesims, in dem die beiden arabischen Halbbögen gefangen sind, schwenkt an seinem tiefsten Punkt horizontal aus und klettert dann in die Höhe, um ein vollendetes Rechteck zu bilden, sehr seltsam. Das gleiche geschieht bei dem Gesims rund um den einfachen Bogen am Altar. Eine einzelne Linie, die mit einem mathematischen, rechtwinkligen Griff die einfache und doppelte Schwellung bändigt – eleganter und wirkungsvoller geht es nicht. Bravo, murmle ich dem Erschaffer im Totenreich zu, und dann habe ich plötzlich nichts mehr zu tun in Santiago de Peñalba. Noch ein Grab in der Außenwand, von einem »Mönch von Cluny«, der da still ruht, Sommer und Winter, schlaf wohl , ich scheide.
    Warum das auf deutsch sein mußte, weiß ich auch nicht, aber plötzlich, auf dem Rückweg, verspüre ich Lust, mich selbst vorübergehend aufzulösen, mir eine andere Persönlichkeit für meine fortdauernde Anwesenheit auszudenken, einen Geist, ein Double, in das ich mich kurzerhand verwandeln kann, weil ich von mir selbst genug habe. Daheim falle ich mir meist nicht so auf, doch auf Reisen bin ich öde Gesellschaft, weg damit. Wer soll ich sein? Frondini, dieser Name weht einfach so ins Auto herein. Beruf? Radierer und Zeichner, kein allzu talentvoller. Achtzehntes Jahrhundert, da kann nichts schiefgehen. Die Großen haben dann bereits gelebt. Ich kenne im Stilistischen nur noch die Parodie , dieses postmodernistische Credo habe ich gerade bei Thomas Mann gelesen ( Tagebuch ), und das will ich Frondini jetzt mal anhängen, aber ich mache es nur noch schlimmer, er weiß es nicht. Schlimmer? Mann mußte darunter leiden, das braucht Frondini nicht. Frondini ist ein unbekümmerter, fröhlicher Italiener mit Reiselust und Skizzenbuch. Er hat nicht genug Talent, um unter seinen großen Vorgängern zu leiden, ein Manierist kann er folglich auch nicht sein, er will nur ganz einfach das zeichnen, was er sieht, er macht die Parodie nicht, er ist eine. Wie es ihn hierher verschlagen hat, weiß ich

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