Der Umweg nach Santiago
man, auch ohne ergänzende Fußnoten, die Tragödie bereits skizziert. Patria chica ist das Verliebtsein in die eigene Heimat, die Unfähigkeit, national zu denken. Durch dieses Erbe sieht die Karte Mittel- und Südamerikas trotz Bolívar aus, wie sie aussieht. Nun haftet Grenzen auch in anderen Teilen der Welt der Geruch des Absurden und Surrealen an, aber hier wurde zusätzlich noch ein Sprachgebiet aufgeteilt. Daß es für die Indianer besser gewesen wäre, von sittenstrengen Pilgern aus dem protestantischen Norden »entdeckt« zu werden, kann man angesichts der Leidensgeschichte der Sioux, Hopi, Navajo und Apachen nicht behaupten, doch als chemische Verbindung war das Aufeinandertreffen der Raubritter aus der Estremadura und der absolutistisch regierten Inka ebenso fatal.
Die Ausdehnung eines Imperiums, die Verbreitung einer Sprache. Es war zu Beginn dieser Reise, als Borges starb. Das war merkwürdig, denn man hatte die seltsame Vorstellung, daß er nie sterben könne oder daß er schon lange tot sei, auch das ist möglich. Seine eigenen Spekulationen über dieses Thema machten ihn in den letzten Jahren zu einem mythischen Schemen, der über die Welt geisterte, der erzählte, er wolle erlöst werden »von dem Ding, das Borges heißt«. Vielleicht war ihm das nun gelungen oder, wer weiß, hatte er nie existiert, oder hatte ihn jemand geträumt oder hatte ein ganz anderer uns alle geträumt und ihn dazu, er lebte nun einmal, wenn er lebte, in einer Welt gnostischer Optionen. Zeitungen waren vielleicht nicht das Medium, um darüber Gewißheit zu erlangen, denn auch wenn man ihn sein Leben lang in allen möglichen Zeitungen als Autor oder Interviewten finden konnte, so hatte ich auch einen Ausspruch von ihm gelesen, daß er während des Zweiten Weltkriegs erwogen habe, seine Gewohnheit, keine Zeitungen zu lesen (weil man besser die Klassiker lesen sollte), aufzugeben, aber dann doch beschlossen habe, jeden Tag ein paar Seiten Tacitus über einen anderen Krieg zu lesen, den punischen. Der liegt zwar lange zurück, zugegeben, aber in einer Welt wie der seinen, in der es zu einer endlosen Wiederholung von Ereignissen kommt oderkommen kann, keine unlogische Entscheidung, wozu noch der Vorteil des besseren Stils bei einem – seiner Ansicht nach – im Grunde gleichen Inhalt kommt. Wahr oder nicht wahr – er liebte Scherze, seine Verachtung entbehrte jedoch nie eines philosophischen Hintergrunds.
Wie dem auch sei, ich hatte keinen Plutarch oder Thukydides bei der Hand, der mir über das Sterben großer Männer berichten konnte, und so kaufte ich in den Tagen nach seinem Tod die Zeitungen, die ich fand, als bedürfe die Nachricht einer Bestätigung. Schließlich starb jemand, mit dem ich und der mit mir eine dreißig Jahre währende Beziehung gehabt hatte. Diese beiden Beziehungen konnten erst aufhören, wenn ich starb, auch das hatte ich von ihm gelernt. Dreißig Jahre war es her, seit ich, einem Instinkt, einer Intuition folgend, die ersten gelben Bändchen der Reihe La Croix du Sud gekauft hatte, mit denen Roger Caillois ihn in Europa eingeführt hatte. Beim Tode von großen Schriftstellern geschieht etwas Seltsames. Sie werden in diesem Augenblick, nach den Worten Audens, zu ihren Bewunderern. Auden sagte dies beim Tode von Yeats. Zwei Sätze aus diesem Gedicht sind mir unvergeßlich: »You were silly like us, your gift survived it all« und »he became his admirers« .
Jetzt sitze ich hier in diesem spanischen Kastell mit all den Zeitungsausschnitten, und einer wie der andere sind sie nach diesen anderthalb Monaten toter als jede Zeile oder Seite des Schriftstellers. Es ist eine recht komische Sammlung, bestehend aus dem, was ich in den Kiosken fand, The Observer , Le Monde , L ibération , La Repubblica , La Vanguardia , Frankfurter Allgemeine . Doch das sind Namen, und hatte ich nicht von ihm gelernt, ich müsse auf die Bedeutung dahinter horchen? Dann wird aus dieser Reihe eine ganz andere: Der Betrachter, Die Welt, Die Befreiung ... die Namen werden allegorisch und die Reihe eine verborgene Biographie. Auf allen Seiten Fotos des blinden Teiresias mit seinem Stock und darum herum Fetzen des Netzes, das er zu Lebzeiten gesponnen hatte, jetzt übersetzt in die Slogans der Journaille, und auch diese Reihe liest sich wie ein seltsames, explodiertes Gedicht:Welch Licht im Labyrinth. Quella luce nel Labirinto. Der melancholische Minotaurus. Il Minotauro malinconico. Aber vielleicht hat er nicht existiert. Ma forse
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