Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Umweg nach Santiago

Der Umweg nach Santiago

Titel: Der Umweg nach Santiago Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
Vom Netzwerk:
und auch kein Ende, das mit der Zukunft verbunden sei. Teilbar sei sie andererseits aber auch nicht, denn dann bestünde sie ja aus einem Teil, der bereits vorbei sei, und einem, der erst noch kommen müsse. FOLGLICH gebe es sie nicht, und weil es auch keine Vergangenheit und keine Zukunft gibt, gebe es keine Zeit.
    Das jagte mir Angst ein. Er schrieb dann zwar, daß neben der unverkennbaren Verzweiflung ein geheimer Trost im Leugnen der Aufeinanderfolge stecke, die die Zeit ist, im Leugnen des Ichs und des astronomischen Universums, doch ich hatte Probleme damit, weil sich diese hochfliegenden Gedanken mit meinem Gefühl vermischten. Das nahm sogar physische Formen an: Ich glaubte, von der Welt herunterzufallen, etwas, das, wenn weder die Welt noch ich existierten, natürlich nur so schlimm wäre, wie ich es fand. Das Problem war, daß man sich bei Borges mit seinen ersonnenen Zitaten aus echten Enzyklopädien, seinen ersonnenen Autoren mit ihren folglich ebensowenig existierenden Büchern nie sicher sein konnte, ob es jemanden wie Sextus Empiricus wirklich gegeben hatte, und selbst wenn das der Fall war, ob dieser das Buch, aus dem der Meister zitierte, wirklich geschrieben hatte. Erst viel später begriff ich, daß dies alles Ernst war, allerdings Ernst einer ganz besonderen Art, Teil einer großen literarischen Verzauberung, daß er all diese Elemente und Betrachtungen, in denen er sich auch noch so gerne selbst widersprach, dazu benutzte, um seine Erzählungen und Gedichte zu schreiben. Das Nicht-Existieren, das immer wieder von neuem Existieren- Müssen , der Doppelgänger, der Spiegel mit dem anderen oder einem anderen Anderen oder gar keinem darin, das alles gehörte zu dem, was er perplejidad nannte, den andauernden Zustand der Perplexität, aus dem das Leben besteht. Borges’ Universum ist eines, von dem man, vorausgesetzt, man neigt von Natur aus dazu, sehr leicht eine Weile mitgesogen wird, undauch wenn es Zeiten im Leben gibt, in denen das Bedürfnis nach »Wirklichkeit« größer ist als der ängstliche Genuß des Perplexen, so zieht es einen doch immer wieder zu diesem Œuvre zurück wie jemanden mit Höhenangst zum Abgrund. Um der Herausforderung des Schwindels willen, des Flirts mit dem Nicht-Sein, des allumfassenden Zweifels, der ein Stimulans ist, der Negation, in der man um so schärfer hervortritt.
    Einmal habe ich ihn gesehen, vor langer Zeit, in den sechziger Jahren, in der Westminister Hall in London. Ich war eigens dafür nach London gereist. Er saß da, sehr souverän, ein Orakel, mit diesen seltsamen Kopfhaltungen des Blinden, der auf Geräusche reagiert. Später las ich bei Cabrera Infante, daß der unangreif bare Meister sich mit einem Riesencognac Mut angetrunken hatte. Wir durften Fragen stellen, schriftlich. Ich fragte, weil mich das damals sehr beschäftigte, was er von Gombrowicz halte, der ja bereits seit vielen Jahren als freiwilliger Exilant im selben Buenos Aires lebte. Darauf gab er keine Antwort. Gombrowicz’ Philosophie des Unfertigen, Unvollendeten, Unausgereiften als höchstem Zustand kann ihn auch nicht sehr angesprochen haben. Ich saß da als Leser, und Leser wollen immer, daß Schriftsteller, die sie bewundern, sich auch gegenseitig bewundern, daß Nabokov Dostojewski liebt und Krol Slauerhoff. Aber so läuft es nicht.
    Gut. Ende. Es ist dem Spinner so vieler Mythen gelungen, er hat uns eingesponnen, er ist selbst ein Mythos geworden. Leb wohl, alter Fächer. Das sagte Bashō auf seiner letzten Wanderung zu
    einem alten Dichter, den er nie mehr wiedersehen sollte. Wo ich jetzt bin, ist es Nacht, der galicische Himmel voller Sterne. Dort irgendwo muß er sein, denke ich, denn magisches Denken ist ganz primitiv. Den Nobelpreis hat er nie erhalten, und das ist schade für diesen Preis, doch er verdient etwas Besseres. Jemand muß einen Stern nach ihm benennen. Er ist der einzige Schriftsteller, zu dem das wirklich passen würde, und dann gibt es doch noch etwas, das Borges heißt.
    1986

I CH HABE MICH NUN MAL S PANIEN VERSCHRIEBEN
    Grenzübergang Portugal. Als wäre mitten in einem Buch, das man gerade in aller Ruhe liest, die nächste Seite plötzlich vergilbt, und damit nicht genug, auch der Schrifttyp ist ein anderer, altmodischer, nein, noch merkwürdiger: Es ist ein anderes Buch geworden, eines, das man lange Zeit nicht aus dem Regal genommen hatte, ein Buch, das man früher schon mal gelesen hatte und das auch damals bereits alt war. Plötzlich ist alles anders,

Weitere Kostenlose Bücher