Der Umweg nach Santiago
ist im Chanson de Roland keine Rede, dort lautet das Thema Paiens unt tort e chrestiens unt dreit , Heiden haben unrecht und Christen recht (wonach man, wie Brenan leichthin bemerkt, natürlich alle Heiden töten dürfe). Wie dem auch sei, er folgert daraus, daß die Spanier des Mittelalters, mochten sie auch nicht die geistige und künstlerische Höhe der Franzosen erreicht haben, doch die ersten waren, die in diesem mittelalterlichen Kontext eine soziale und politische Reife erlangten, weil die unaufhörlichen Kämpfe an dieser sich ständig verschiebenden Grenze zwischen Christentum und Islam für unablässige Bewegung und Befreiung sorgten.
Jemand streut Körner aus, und an dieser Stelle bildet sich ein Taubenwirbel. Nun bin ich doch aufgestanden und an diesem eigenartigen Brunnen mit dem liegenden Mann und den albernen Mädchengestalten vorbei in die Basilika gegangen. Meine Augen müssen sich an das Dunkel gewöhnen, ein Ritus ist dort im Gang, kleine Kinder werden von der Erde aufgehoben und so hoch wie möglich in die obere Welt gestemmt, so hoch, wie der Priester hinaufreicht, und so lang, wie er es aushält, das Kind über sich selbst hinauszuheben. Ich kenne das nicht, habe es selbst nicht erlebt und noch nie gesehen. Firmung, Aschenkreuz, Blasiussegen, Erstkommunion, das schon, aber nie wurde ich meiner Mutter so weggenommen, mit einem Schwung hochgehoben,zum Altar gedreht, festgehalten, gezeigt und dann, mit einem zweiten Schwung, durch die Luft geschwenkt und nochmal gezeigt, nun aber einer irdischen Instanz, dem Fotografen, der mich für eine Sekunde in das weiße Silber seiner Blitzlampe hüllt und so diesen Moment für alle Zeit festschreibt, so daß ich mich später sehen kann, wie ich in der Basilika schwebe, der Priester in seiner capa unter mir, mit festem Griff meine bescheidene Mitte umfassend. Zwischen Himmel und Erde weile ich, als müßte ich mich jetzt schon entscheiden, einmal werde ich dem Tabernakel entgegengehalten, wo Gott wohnt, einmal bade ich im Blitzlicht, dann darf ich wieder stehen. Ich nicht, die Kinder, ängstlich und gleichzeitig den Moment genießend, nie mehr wird jemand sie so in einer Kirche hochheben. Eines nach dem anderen werden sie in dem heiligen Fotolicht festgehalten, die Mütter stehen da, als dächten sie, daß ihre Kinder doch noch wegfliegen könnten, hinauf in die Gewölbe, hinaus zur Rosette, aber die Erde saugt sie wieder an sich mit dem Klang von Münzen auf flachen Kupfertellern, dem Duft betäubenden Weihrauchs, dem für so kleine Hände komplizierten Manöver des Kreuzschlagens, nein, nicht so, sondern so. Draußen wartet noch immer die Braut wie eine Fregatte aus Tüll, mächtig ist sie, der magere bäuerliche Mann neben ihr ist nervös, er möchte vielleicht lieber nicht in diese Welt eintreten, die nach einer anderen Welt riecht, der Welt der Priester, der Orgeln und des Goldes, in der die eigene Stimme anders klingt, als wäre sie von etwas Unsichtbarem verzerrt, demselben undeutbaren Element, das dafür sorgt, daß da drinnen keine Bäume wachsen. Er rührt mich, braun und ungelenk in seinem ungewohnten Sonntagsanzug. Der Priester, die Tauben, der Platz haben mich wieder nach Spanien zurückgebracht, ich muß fort, aus der Stadt, weg vom Meer, hinein ins Land, jenes andere Meer mit seinen leuchtenden sandfarbenen Wellen, ein Ozean von Olivenbäumen, entlang Straßen, auf denen niemand fährt. Deswegen bin ich hierher gekommen, und es ist mir bewußt, niemandem kann ich das erklären, die Verlockung jener heißen, trockenen Stunden, die Schlachtreihen der Olivenbäume,die die Hügel hinaufklettern wie eine brennende Vision, die ausgelaugten Flußbetten und die unscheinbaren, manchmal halb verlassenen Dörfer. Immer wieder öffnet sich eine andere, die gleiche Landschaft. Hier ritt San Juan de la Cruz, der Mystiker, der Dichter, auf seinem Esel, singend und lesend und denkend wie einer, der sonst niemanden braucht, um ihn in den Himmel zu heben. Er schwebte über sich selbst, seine Verdoppelung als Schemen über dem Mann mit dem Stock und dem Esel, der unter ihm die versteinerte Stille durchstreifte. Ich bin nicht heilig, aber das Land ist es, so etwas muß es sein, denn die Ortsnamen rauschen und flüstern mit ihrer vergessenen Herkunft, zusammen sind sie die Seele der Sierra, ein Meer, in dem die Wogen Namen haben. Ich weiß, für den, der es nicht sieht und hört, ist hier nichts zu finden, ein Sandkasten, eine Wüste, die Gasthöfe dunkel, das
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