Der Umweg nach Santiago
entschlossen zuschlagen. Und dann ruft der Mann, der in einer glücklichen Stunde geboren ward, mit ach, so lauter Stimme: Schlagt zu, Ritter, aus Liebe zu Gott, ich bin Roy Díaz de Vivar, der Cid, der Kämpe!« (Im Spanischen steht nicht nur hinter, sondern auch vor einem solchen Satz ein Ausrufezeichen, und dann auch noch auf dem Kopf.)
Und noch einmal das gleiche, alt und neu: Das Poema de mío Cid war das erste der spanischen cantares de gesta (Heldenepen) und hat aufgrund seiner großen Popularität sicherlich eine Rolle gespielt bei der Begründung der kastilischen Macht und der Hegemonie des Kastilischen als Sprache ganz Spaniens. Spanisch wird sie in aller Welt genannt, obwohl es in Spanien auch noch andere Sprachen gibt. Doch was am gewichtigsten ist, muß auch das größte Gewicht bekommen: Erst gestern sah ich den späten, gewählten Nachfolger der Grafen von Katalonien, Jordi Pujol, auf einer Pressekonferenz die Parallelen zwischen Litauen und Katalonien erklären, nicht auf katalanisch, sondern auf spanisch, während der lehendakari , der Führer, der Präsident des Baskenlands, das Vorgehen der ertzaintza (baskische Polizei) gegen die ETA auf spanisch verteidigte. Und das sind dann gleichzeitig die Stachel im Fleisch: Trotz allen Geredes von Unabhängigkeit und Nationalismus verkaufen sich spanischsprachige Zeitungen in Katalonien viel besser als die katalanischsprachigen, und das gleiche gilt für Bücher. Und doch werden wir es vielleicht noch erleben: Europa als Schrebergarten, mit dem katalonischen Botschafter inRiga, dem lettischen Botschafter in Zagreb, dem slowenischen Botschafter in Bastia – Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen auf höherem Niveau. Auch eine Form von Wunder: größer werden und gleichzeitig kleiner.
Jetzt läuten Kirchenglocken, eine voluptuöse Braut schreitet an dem Marmorspringbrunnen vorbei, eine Gruppe Mütter mit kleinen Kindern verschwindet in der Basilika, als würden sie von einem offenen Mund verschluckt. Einen Moment noch, ich will noch nicht aufstehen, der Boden wogt vor Tauben, aber auch auf den Seiten in meiner Hand wogt es, die Sätze sind durch eine Zäsur in zwei Teile geteilt, und das setzt nicht nur eine herrliche Kadenz beim Lesen, weil man mit der Stimme jedesmal hinauf-und hinuntergeht, es ist auch eine Wohltat für das Auge, denn da die Zeilen, und damit die Einschnitte, nicht die gleiche Länge haben, läuft ein erratischer weißer Fluß mitten durch den gedruckten Text, kapriziös und unregelmäßig, wohingegen das Resultat des Lautlesens gerade das Regelmaß ist, Tanz, Rhythmus. In The Literature of the Spanish People zieht Gerald Brenan einen Vergleich zwischen dem spanischen und dem französischen chanson de geste und konstatiert dabei Dinge, die ich mir nie klargemacht hatte: Das Frankreich jener Zeit (um 1100) ist für ihn ein Land, das in seiner Entwicklung hinter Spanien zurückbleibt. Er spricht von keltischen und germanischen Hintergründen in Nordfrankreich, von der romantischen Phantasie der Germanen und gleichzeitig von der »barbarischen Roheit«, die dem »wundersamen Ausbruch« kreativer Energie zugrunde liege: Kreuzzüge, Kathedralen, scholastische Dispute, neue epische und lyrische Dichtung. Es sei eine Gesellschaft, die noch unfertig ist, die so schnell wie möglich eine eigene Kultur haben wolle und dadurch eine Verfeinerung vorgebe, die sie nicht wirklich besitzt. Die Folgen in diesen gefährlichen und unsicheren Zeiten sind (laut Brenan) Massenneurosen, Unechtheit und Gefühlsüberschwang wie im Rolandslied.
Dem stellt er die spanische Welt jener Zeit entgegen, deren so treffender Ausdruck das Epos vom Cid sei. In Spanien sei die Gesellschaft»gesund und selbstsicher«. Roh, da ständig im Krieg mit den Moslems, jedoch im Besitz einer alten Kultur, die direkt aus der Zeit der Römer stamme. Nicht nur der Stil des Epos sei schlicht, ohne übertriebene Abschweifungen und Beschreibungen und mystischen Überschwang, sondern auch das Verhalten der Hauptfiguren sei beherrscht und selbstsicher. Und hier weist Brenan warnend darauf hin, daß das Bild, das wir von Spanien hätten, nur allzuoft von »jenem Jahrhundert phantastischen, aber fatalen Rausches« beeinflußt sei, das als das Goldene Zeitalter ( Siglo de Oro ) bekannt ist, und von dem danach einsetzenden Niedergang. Zur Zeit des Cid befindet sich Kastilien in einer expansiven Phase, revolutionär in dem Sinn, daß sich allmählich Widerstand gegen die Feudalverhältnisse regt. Davon
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