Der Umweg nach Santiago
– des Rechtes und des Staates – verwandter fanden. Aber als wir versuchten, uns als Bürger Athens oder Roms zu fühlen, entdeckten wir einen dezidierten Widerstand in uns. Der antike Staat bemächtigt sich des ganzen Menschen und läßt ihm auch nicht den kleinsten Rest zu seinem Privatgebrauch übrig. In irgendwelchen unterirdischen Wurzeln unserer Persönlichkeit widerstrebt uns dieses vollständige Aufgehen im Kollektivkörper der Polis oder Civitas. Offenbar sind wir nicht so rein und ganz Bürger, wie wir im Eifer der Rede auf Versammlungen und in Leitartikeln beteuern.
So wenden wir uns zurück zu den Burgen und finden, daß hinter ihren theatralischen Gesten ein Schatz von Ideen bereit liegt, die mit den tiefsten Bedürfnissen unserer eigenen Seele zusammenstimmen. Ihre Zinnen und Türme sind errichtet, um die Person gegen den Staat zu verteidigen. Meine Herren, es lebe die Freiheit!«
Letzteres unbedingt, aber natürlich ist es Unsinn, daß diese Türme errichtet sein sollen, um das Individuum gegen den Staat zu verteidigen. Diese Burgen wurden gebaut als Faktoren in einem Jahrhunderte währenden Machtkampf zwischen christlichenund arabischen Königreichen, zwischen adligen Machthabern untereinander, an strategischen Punkten, von denen aus man einen ganzen Landstrich beherrschen konnte. Doch worauf das Zitat den Finger legt, ist das etwas nebulöse, übermenschartige Gefühl, das einen beim Anblick dieser nichts und niemand mehr zugehörigen Relikte befängt: als hätte sich hier einst in diesen Burgen und in ihrem Dunstkreis ein besseres und höheres Leben abgespielt, an dem man, hätte man damals gelebt, teilgenommen hätte. Aber sofern man sich überhaupt diesem Kastell hätte nähern dür fen, so vielleicht nur, um seinen Tribut in Form eines Sacks Korn hinaufzuschleppen. Es ist trügerisch, dort oben auf den Wehrgängen zu stehen und mit Adlerblicken auf die Landschaft zu schauen: Schon bald glaubt man, was von dort zu sehen ist, gehöre einem, und man versetzt sich in denjenigen, der damals hier stand, und nicht in den Menschen, auf den dieser im wahrsten Sinne des Wortes herabblickte. Der Einzelne, der sich hier gegen was auch immer verteidigte (einen Staat in dem Sinn, wie Ortega ihn erwähnt, gab es damals noch gar nicht), verteidigte in erster Linie sich selbst, und die Wahrscheinlichkeit, daß wir dieser Einzelne gewesen wären, mögen wir auch noch so romantisch auf diesen Wehrgängen stehen, ist gering. Wahrscheinlicher ist es, daß wir der Willkür desjenigen, der dort stand, wer auch immer es gewesen sein mochte, ausgeliefert gewesen wären. Erst der Staat, den wir errichten sollten, sollte uns von dieser Willkür befreien, bis der Staat selbst wieder Willkür wurde und sich unnahbar im Schloß verbarg, zu dem Landvermesser keinen Zutritt haben. Aber das sind die Schlösser der unsichtbaren Macht, mit Computerschirmen als Aussichtstürmen, und so erhält Ortega vielleicht doch noch recht: daß wir für einen Moment, vor dieser theatralischen Kulisse endgültig vergangener Zeiten, der Anonymität unserer gleichförmigen Leben entronnen sind. Denn weshalb, nein, weswegen habe ich nun eigentlich angehalten? Um irgendeine Form von oberflächlichem Heimweh zu empfinden? Aber wonach? Nach einer Zeit, in der die Menschen größer waren? Aber das waren sie nicht. Kunstgenuß?So prachtvoll, wie diese aufragenden, im Mittagslicht weiß gleißenden Mauern sich dort gegen den Himmel abzeichnen, die Effekthascherei dieses Ortes? Der war nur durch strategische, nicht nur künstlerische Überlegungen bestimmt.
Wer hier umherreist, hat genug Zeit, sich über so etwas Gedanken zu machen. In den darauffolgenden Tagen sehe ich noch das Kastell Lacalahorra, das ebenfalls über einem an einen Hügel geklebten Dorf thront, dicke Mauern, rote runde Türme, unnahbar, aber schon kilometerweit zu sehen, von Menschenhand erbaut, organisierter Stein auf von niemandem konzipiertem, von der Natur hingeworfenem Stein, und derselbe Gedanke drängt sich auf: Was macht diese Bauten für manche Menschen so reizvoll? Meine bösen Vermutungen bestätigen sich im Kastell von Jaén, das vom spanischen Staat als Parador eingerichtet worden ist. Man spürt es bereits, wenn man sein anachronistisches Auto (das Ding wird schlagartig kleiner) durch die Haarnadelkurven zu dem dräuenden Räubernest dort oben steuert: Es hat etwas mit Theater zu tun, mit Wahn, und natürlich auch mit Angeberei. Die Menschen, die dort wohnten, waren
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