Der Umweg nach Santiago
als der Text selbst, und der Klang wurde durch den Anblick herauf beschworen. Noch einmal, als Abschied, wandere ich zwischen ihnen umher, den endlosen Reihen gemalten Klanges – kufische Buchstaben, verwoben in Weinranken, Pfauenfedern, Ananasschuppen, gezähnte Blätter, die sich ineinanderhaken –, der Betäubung der ewigen Wiederholungen, den gestirnten Himmeln der Decken, den Löwenköpfen, dem Wasser, der Schrift. Nun sollte in den mihrābs der Alhambra nie mehr zu hören sein:
Al hamdu lillah rabb al-alamin
l-rahman al-rahim malik yawn al-din
Lob sei Allah, dem Herrn der Welt,
dem Barmherzigen voller Erbarmen, dem König am Tage
des Jüngsten Gerichts ...
Es ist noch früh am Morgen, ich habe die Gärten des Generalife für mich allein, bin allein mit den Vögeln und Springbrunnen, den roten Türmen, dem Grün der Bäume, das dort unten die Stadt berührt. Die Copla hat recht, blind sein in Granada muß die schlimmste aller Strafen sein, gib also dem Blinden ein Almosen:
Dale limosna, mujer,
Que no hay en la vida nada
como la pena de ser
ciego en Granada.
1992
U NTERWEGS ZUM E NDE DER Z EITEN
Es ist kalt in Madrid im Februar, kalt und klar. Im Landeanflug kann ich die Stadt sehen, in dieser versteinerten Landschaft gefangen, die mehr als alles andere die Seele Spaniens zum Ausdruck bringt. Bei zwei Ländern kenne ich dieses immer wieder heftige Ankunftsgefühl, bei Spanien und bei meinem eigenen Land, weil auch bei diesem das gleiche passiert: Wer nach einem langen Nachtflug in weitem, immer tiefer werdenden Bogen um Amsterdam kreist und die weiße Morgensonne in den Wassergräben sieht und die sumpfigen, so flachen, so grünen Wiesen dazwischen, weiß, daß ihm dort auch nach dem hundertsten Mal noch etwas über die Beziehung zwischen diesem Land und dem Wasser erzählt wird, und damit über seine Geschichte. Zwischen diesen beiden Ländern bewegt sich mein Leben, ich bin in beiden zu Hause und nicht zu Hause. Am besten ist es noch, den Weg im Auto zurückzulegen, sich daran zu gewöhnen und wieder zu entwöhnen, Fliegen empfiehlt sich nur bei den Ländern, die man nicht gut kennt. Jetzt muß man sein ganzes System umstellen, und ich habe gelernt, das radikal zu tun, mich sofort in irgend etwas zu stürzen. Ein paar Stunden nach der Ankunft sitze ich in einer kleinen, etwas düsteren Kirche im alten Teil der Stadt, in der ein Mirakelspiel aufgeführt werden soll.
Die Capilla del Obispo (Bischofskapelle) füllt sich langsam. Das Stück ist sehr erfolgreich und läuft hier, nachdem die Schauspieler damit durch halb Spanien gereist sind, bereits seit vier Monaten. Ich hatte davon in El Público gelesen, der spanischen Theaterzeitung. Die Fotos vom Stück zeugten von einer gewissen neurömischen Tölpelhaftigkeit, wie die kirchliche Kunst der dreißiger Jahre, ein freudiger Rückzug in das, was man für mittelalterliche Einfachheit hielt. Die Texte selbst stammten jedoch aus dem dreizehnten Jahrhundert, von Gonzalo de Berceo, einem der ersten, die in der spanischen Volkssprache schrieben. Er verfaßte seine Milagros de Nuestra Señora irgendwann zwischen 1246 und 1252, und das allein schon ist Grund genug, hier zu sitzen.Bewahrte Sprache aus lebenden Mündern – eines der schönsten Dinge, die es gibt. Das Bühnenbild ist primitiv, oder – wenn man will – essentiell, goldfarben, kirchlich. Das Echo gregorianischen Summens trägt ebenfalls dazu bei. Es ist sehr kalt in der Kapelle, eine alte Frostigkeit zieht aus den Steinen hoch, und für einen Moment, wie etwas Absurdes, spüre ich die Reisemüdigkeit und das déplacement , als gehörte ich nicht hierher, oder, noch schlimmer, als wäre ich gar nicht hier, doch dann steht da plötzlich ein mittelalterlicher Mensch und sagt mit harter spanischer Stimme, die vor siebenhundert Jahren schon genauso geklungen haben muß:
Amigos e vassallos / de Dios omnipotent
si vos me escuchássedes / por vuestro
consiment,
querríavos contar / un buen aveniment:
terresdeslo en cabo / por buene verament.
Yo, maestro Gonçalvo / de Verceo nomnado
yendo en romería / caeci en un prado,
verde e bien sencido, / de flores bien poblado
logar cobdiciaduero / pora omne cansado ...
»Freunde und Vasallen (daraufläuft es hinaus), mit eurer Erlaubnis erzähle ich euch eine schöne Geschichte ... Ich, Meister Gonçalvo, genannt Berceo, lag auf einer grünen Wiese voller Blumen, äußerst einladend für eine müde Person ...« Es dauert noch eine ganze Weile, bis
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