Der Umweg nach Santiago
neuen Zeiten und Mächten Ausdruck verleihen könnte. Säulen und Bäume sind auf seltsame Weise miteinander verwandt, die vielfarbenen Steinbrocken, die die Natur einst, als wäre es eine höhere Form von Sülze, in diese Marmorbäume gepreßt hat, zeugen von einer neuen Militärkaste, die über den Globus ausgeschwärmt ist, um Imperien zu zerstören und mit dem Gold zurückzukehren, mit dem man Heere ernährt, Paläste erbaut und Inflation erzeugt. Ochsenschädel, Steintafeln von Feldschlachten, geflügelte Frauen von großer Schönheit, die verträumt auf den Frontons liegen, die gebrochenen Schwingen halb ausgebreitet, Metallringe mit Adlerköpfen, an denen einst Pferde angebunden wurden, nichts zeigt so deutlich, was hier passiert ist, wie die beiden ineinander verkeilten Paläste, der eine offen, gefallsüchtig, der andere abwehrend, verschlossen, über die genußfreudige Blüte der Sultane hinaus verweist der Bau des Kaisers auf die Macht anderer, früherer Kaiser, die Europa regierten, lange bevor die Heere des Islams kamen und gingen.
Grabmal von Johanna der Wahnsinnigen in der Kathedrale von Granada
Unten, jenseits der Volksviertel des Albaicín, im eigentlichen Zentrum von Granada, das keine Verbindung zu der vergessenen Welt dort oben zu haben scheint, liegen in der Capilla Real der Kathedrale die Eltern des Kaisers, Johanna die Wahnsinnige und Philipp der Schöne, und daneben, etwas tiefer, die Katholischen Könige, Ferdinand und Isabella, Aragonien und Kastilien. Erst wenn man die Stufen des Hochaltars erklommen hat (und sich nicht vom verschwenderischen Gold des Altaraufsatzes hat einsaugenlassen), kann man sie betrachten wie eine Landschaft, zwei riesige Betten aus Carrara-Marmor, so unendlich viel größer als ihre lederverkleideten Bleisärge unten in der Krypta, wo sie wirklich tot sind, als Reste verwahrt, tote Könige in Kisten. Oben nicht, da schlafen sie nur, leise atmen sie die Marmorluft ein und aus. Sie liegen weit auseinander, noch ein Mal ganz Majestät, Johanna mit dem Zepter auf der Brust, eine Stirn, die in gerader Linie in die griechische Nase übergeht, die Lippen zu einem Lachen geschlossen, das nichts Wahnsinniges hat, eine schlafende Athene mit einer Krone. Philipp hält sein Schwert am Griff gepackt, aber es ist nach oben, über die Schulter gerichtet, beider Gesichter sind voneinander abgewandt, man sieht ihnen die fünfzig Jahre zwischen ihrem und seinem Tod nicht an. Als ob sie eine Wärterin wäre, die zur Fütterung der Löwen kommt, betritt ein Mädchen das Gehege, das Menschen aus Marmor von Menschen aus Fleisch trennt. Sie hat das Gitter wieder hinter sich geschlossen und wischt mit einem Staubtuch unendlich sanft über die versteinerten Gesichter, die Falten, die wachenden Löwen, die gefalteten Hände der Königinnen. Skulpturen sind dazu da, an Menschen zu erinnern, Skulpturen zu betrachten ist eine Form von Nahesein, und so bin ich nun zum dritten Mal in Isabellas Nähe; das erste Mal war an dem hohen Standbild mitten in der Stadt, wo sie sich, vom Verkehr nicht gestört, mit Kolumbus berät, das zweite Mal bei dem albernen Gemälde von Pradilla, das die Kapitulation Boabdils zeigt, das fünfzehnte Jahrhundert in das neunzehnte getaucht, eine anachronistische Bonbonniere. Ein wolkiger Himmel, die Alhambra in der Ferne, links auf seinem Pferd der etwas zu unterwürfige Maure und letzte Sultan von Granada, rechts, stets die Seite der Sieger, Ferdinand wie ein Page in Rot und Isabella wie eine Madam auf einem Schimmel, eine Schauspielerin mit einer Krone. Boabdil hält den Schlüssel der Stadt in der Hand, was aber den Tatsachen nicht entspricht, da die Stadt immer offen gewesen war, das muslimische Granada hatte bereits seit langem Adel und Kaufleute aus Aragonien und Kastilien, aus León und Andalusien eingelassen, der Handelsverkehrmit dem christlichen Spanien war über den Hafen von Málaga erfolgt, der dem Sultanat unterstand, die Militärkaste Kastiliens hatte als Kondottiere in den islamischen Heeren gekämpft, wenn es sich gerade so ergab, und bis zur Krönung von Ferdinand und Isabella hatten beide Parteien fünfzig Jahre lang in Frieden gelebt. Jetzt war das alles vorbei, Boabdils Schlüssel öffnete nicht, sondern schloß zu. Das beharrliche Bohren der Kirche führte dazu, daß die Könige die Zusagen, die sie bei der Unterzeichnung der capitulaciones so feierlich beschworen hatten, nicht einhielten. Die Rückseite des Gemäldes ist eine Geschichte von
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