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Der Umweg nach Santiago

Der Umweg nach Santiago

Titel: Der Umweg nach Santiago Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
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wachsamen Augen, die ein einziges Mal nicht aufgepaßt haben.
    Die alte Nelkenverkäuferin in der Bodega neben dem elektronischen Spielautomaten mit seinem verzerrten Beethovengedudel, die bettelnden Zigeunerkinder, die alten schwarzgekleideten Frauen, die in der Eiseskälte einer Madrider Nacht auf der Straße sitzen, um stückweise Zigaretten oder Zigarren zu verkaufen, mit diesen Bildern schlafe ich ein. Am nächsten Morgen werde ich von den Tierschreien des Losverkäufers wach, die bis in die fünfte Etage meines Hotels zu mir hochwehen, tira para hoy , Ziehung heute, das tie-ie-ie langgedehnt, das hoy wie ein Peitschenhieb, und während ich noch im Bett liege, denke ich an diese Passage bei Proust, wo er, in seinem Bett liegend, all diese nunmehr für immer verschwundenen Geräusche der Straßenverkäufer (Artischocken, erinnere ich mich, Makrelen, Käse, jeweils mit anderen Reimen und Rufen) beschreibt. Manchmal kommt es einem so vor, als wolle Spanien für Europa noch etwas bewahren, Geräusche, Gerüche, Tätigkeiten, die anderswo bereits verschwunden sind und doch einst so zum täglichen Leben gehörten,daß es schien, als seien sie ein Teil der Natur, langgezogene Menschenstimmen, anpreisende Rufe, die zwischen Häuserwänden hallen, Früchte und Fische und Blumen in Karren und Eselkörben, inzwischen verjagt von der sozialen Gerechtigkeit, der Technik und dem Kommerz, die die Welt reicher und ärmer zugleich zurückließen.
    Madrid. Retiro-Park
    An dem Tag, an dem ich nach Gomera auf brechen will, ist es auf der Straße sehr kalt, es kommt einem vor, als wären die Gehwege härter als im Sommer. Als ich ins Freie trete, ist es ungefähr zehn, doch das Sonnenlicht ist so wie am frühen Morgen, über den Straßen hängt ein feiner, ausgedünnter Nebel, in dem das glänzend geputzte Kupfer, der ärmere Bruder des Goldes, wie eine Gegensonne leuchtet. Ich kann nichts dafür, ich bin eine Elster, mich zieht alles an, was glänzt, und in Spanien wird das Kupfer, wie hier am Eingangstor einer großen Bank neben der Alcalá, nachts noch von Heinzelmännchen poliert. Natürlich ist in diesem Morgenlicht viel mehr zu sehen, aber ich sehe das Kupfer als erstes, durch den Frühnebel suggeriert es ungebührlichen Reichtum, es will sagen, daß unten, in den Kellerräumen der Bank, ein arabischer Goldschatz liegt, der, je länger der Tag fortschreitet, erstrahlen wird wie die Sonne selbst. Was wird wohl mit dem Kupfer passieren? Wird es aussterben, weil es keine Menschen mehr gibt, die es putzen wollen? In der modernen Architektur des Nordens begegnet man ihm nicht mehr, vielleicht fahren die Leute später eigens nach Spanien, um es zu sehen, kupferne Türklopfer und Treppengeländer, geronnenes Sonnenlicht, das das eigene Gesicht in einem närrischen Zerrspiegel goldglänzend reflektiert und das, bliebe man den ganzen Tag stehen, abends von tausend Fingerabdrücken modelliert wäre.
    Manchmal kann man anderen Leuten am Gesicht ablesen, ob man eine Zeitung kaufen muß oder nicht, man hat kein Radio gehört, nicht ferngesehen, man ist aus dem Hotel in einen makellosen Tag getreten, man geht über den breiten Gehweg zum Zeitungskiosk. Es gibt zweierlei Arten, auf einen Zeitungskiosk zuzugehen. Zum einen: die der Unschuld. Man weiß noch nicht,welcher Art die Nachrichten sind. Zum anderen: die belastete. Etwas ist passiert, man hat davon gehört, und jetzt will man es lesen. Die Zeitung ist längst nicht mehr immer gleichbedeutend mit Neuigkeit, aber sie ist doch die einzige wirkliche Bestätigung der Neuigkeit – jetzt steht sie schwarz auf weiß da. Am Gesicht der mir entgegenkommenden Frau sehe ich, daß etwas los ist. Was es ist, kann ich nicht sehen. Sie geht in einer Aura des Insichgekehrtseins den Gehweg entlang, die Zeitung halb aufgeschlagen, am Format erkenne ich, daß es El País ist. Sie ist erst etwa fünfzig Meter vom Kiosk entfernt, aber schon mitten in der Zeitung, sie liest im Gehen, schaut nicht auf und ist offensichtlich einer intimen Form von Trauer ausgeliefert. An Lesenden ist ohnehin stets etwas Intimes, und das verstärkt sich, wenn sie in der Öffentlichkeit lesen und in ihre Lektüre versunken sind.
    Ich trete an den Kiosk, kaufe die Zeitung und sehe, daß Julio Cortázar tot ist. Jetzt entferne auch ich mich von dem Kiosk, setze mich auf eine Bank und schlage die Innenseiten auf, auf denen des Schriftstellers gedacht wird. Dabei denke ich an die Bücher, die ich von ihm gelesen habe, betrachte

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