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Der Umweg nach Santiago

Der Umweg nach Santiago

Titel: Der Umweg nach Santiago Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
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die Fotos mit dem für einen Siebzigjährigen merkwürdig jungen Gesicht, denke wieder an das Buch, das ich vor ein paar Tagen von ihm gekauft habe, den Bericht über die letzte Reise, die er mit seiner Freundin machte, bevor sie an Leukämie starb. Jetzt ist er an derselben Krankheit gestorben, kaum ein Jahr nach ihr. Ich habe es noch nicht richtig gelesen, nur die Bilder betrachtet, Fotos von einem Mann und einer Frau in oder neben einem VW -Bus an der Autobahn, denn dies war die Reise von Paris nach Südfrankreich, ohne die Autobahn zu verlassen. Ein seltsamer Abschied, eine Geschichte über ihn selbst, eine von einem Schriftsteller inszenierte Geschichte. Es gehört zu ihm, wie das Gesicht dieser Frau, die er nie gesehen hat und die jetzt mit ihrer Zeitung irgendwo in der Menge verschwunden ist.
    An den folgenden Tagen erlebe ich, wie die romanische Maschine auf Touren kommt. Ich sage das vielleicht mit etwas zuviel Nostalgie, oder Neid, aber hier kommt es einem tatsächlichso vor, als gehöre ein Schriftsteller allen – Mario Benedetti, Gabriel García Márquez, andere, weniger bekannte Namen, aus allen Winkeln der spanischen Sprache kommen die Erinnerungen, kommen Trauer und Gram. In solchen Augenblicken wird man sich der unglaublichen Ausdehnung dieses Sprachgebietes wieder einmal bewußt, von Feuerland bis nach Texas, und darin, auch heute noch, der zentralen Funktion Spaniens und seiner Hauptstadt Madrid.
    Jetzt werde ich mich aus dem Winter der Hochebene heben lassen und nach Teneriffa fliegen, wie ein Stein in den Ozean gelegt für den Fall, daß der Riese den Schritt nach Südamerika wagen will. Die spanische Sprache beginnt dort bereits anders zu singen, die Vegetation tendiert ins Tropische, es ist ein Abschied von Europa. Mein Reiseziel ist die Insel Gomera, aber bis dorthin werde ich es an diesem Tag nicht schaffen. Man kann Gomera nur mit dem Schiff erreichen, und das ist, wenn das Flugzeug aus Madrid ankommt, bereits weg. Die Hotels in der Nähe des Flugplatzes und des zwanzig Kilometer entfernten Hafens sind voll, ein Taxichauffeur findet noch einen Schlafplatz für mich in einer Filmkulisse, einem weißen, schemenhaften kleinen Gebäude, das nicht erhellt im nächtlichen Halbdunkel steht. Ich höre den Ozean, der Wind treibt den Sand durch die verlassene Straße. Als ich laut an die Tür klopfe, kommt ein Mann, der wortlos meinen Koffer nimmt und ihn drinnen in einem verlassenen steinernen Raum abstellt. Über diesem Raum ist eine Balustrade, an der mehrere kleine Zimmer ohne Waschbecken und Toilette liegen. Dies ist das Spanien, wie ich es früher gekannt habe. Wofür ist bloß dieser steinerne Raum unten gedacht? Ich werde es nie wissen. Da steht kein Mobiliar, da steht eigentlich gar nichts, und dann wird es wieder umgekehrt, der leere Raum wird gefüllt, aber mit nichts. Das ist nicht nur eine Wortklauberei. Ein Raum, der so ostentativ leer ist, wird davon erfüllt, man wird gezwungen, über diese Leere nachzudenken, was man nicht getan hätte, wenn ein oder zwei Stühle dagestanden hätten. Es erinnert mich an die Augenblicke,in denen der Geist blank ist, wie die Engländer sagen, wenn man etwas denken will, aber es kommt nichts, außer diesem einen Gedanken, der bereits da war: daß man etwas denken will. Ich gehe die Treppe hinauf, inspiziere mein Zimmer, zähle die beiden kleinen schmalen Eisenbetten, zähle die eine kleine Reproduktion einer nicht existierenden Kirche in einer nicht existierenden Landschaft. Draußen zähle ich 1 Nacht und 1 Sturm, und lange Zeit schaue ich hinauf zu diesem hinreißendsten aller nächtlichen Phänomene, dem Mond, der wie ein besessener Reiter auf schwerfällige stehende Wolken zustürmt.
    Ich bin schon öfter auf Gomera gewesen, diese Reise ist ein Wiedersehen. Die Insel ist schroff und arm. Die Tatsache, daß man dort nur auf eine Weise, mit dem Schiff, hingelangt, verstärkt den rituellen Aspekt der Reise. Immer dasselbe Schiff, die Benchijijua , weiß und ziemlich groß, immer die gleichen kanarischen Gesichter, die so ganz anders sind als die spanischen, die Reise selbst, die knapp zwei Stunden dauert, wobei man Teneriffa und die gräßlichen Touristenburgen, die die ausgedörrte Südküste der Insel verschandelt haben, langsam entschwinden sieht, bis nur noch der weiße Gipfel des Vulkans Teide wie das Segel eines Geisterschiffs in der Luft schwebt. An dieser Reise ist etwas Eigenartiges, und das hängt mit der Erinnerung zusammen. Man hat sie schon

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