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Der Umweg nach Santiago

Der Umweg nach Santiago

Titel: Der Umweg nach Santiago Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
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das große DAMALS anbricht, aber die Stimme und die Ausdrucksweise ziehen einen auf einen Marktplatz mit, zu den zweitausend Kilometern, die ich an diesem Tag zurückgelegt habe, kommen die siebenhundert Jahre, die vergangen sind, seit jemand diese Worte niederschrieb, und in dieser Addition ungleichwertiger Größen, des Raums und der Zeit, sitze ich und lasse mich einspinnen in die Wunder des Schreibers und der Blume, der schwangeren Äbtin, des Priesters, der nureine einzige Messe lesen konnte. Das Schema bleibt dabei immer das gleiche: Irgend etwas läuft unabänderlich und ungerechterweise schief, das Opfer wendet sich an die Muttergottes, und die Situation wird in ihr Gegenteil verkehrt. Es ist ein Puppenspiel mit lebensgroßen Puppen, die von jungen Schauspielern sichtbar geführt und gesprochen werden. Die Puppen sind eher süßlich, sie haben nicht die Bedrohlichkeit und Kraft japanischer Bunraku-Puppen (die etwa ebenso groß sind), doch das Unveränderliche ihrer Gesichtszüge paßt zum emblematischen Charakter frühromanischer Bildhauerkunst: Betrübt, böse oder unschuldig – alles ist sofort abzulesen, und das bewirkt, ebenso wie die zwischendurch erklingenden gregorianischen Gesänge, die seltsamen gedehnten, gespreizten Töne der Streich- und Schlaginstrumente, die arabo-andalusischen Lieder, die kleine Handorgel, die mit plötzlich sehr jungfräulich wirkenden Mädchenhänden gespielt wird, die fahlen Gewänder, die hohen Stimmen, der Schlag des Tamburins jeweils in der Zäsur einer Verszeile, daß ich langsam in etwas versinke, das seine Gültigkeit noch nicht verloren hat, eine Urform erzählender Dichtung, bildhaft und rhythmisch.
    Es ist der Sieg der Volkssprache über das verarmende Latein:
    Puiero fer una prosa / en romanz paladino
    en qual suele el pueblo / fablar con so vezino
    ca non só tan letrado / por fer otro latino ...
    sagt Berceo dazu – ich will in der Sprache schreiben, in der das Volk mit seinen Nachbarn spricht, im Romanz. Romanz, Romanisch, Romanze, Roman, das sind die Wurzeln dieses Wortes: eine im Romanischen abgefaßte Geschichte. Als ich am Tag darauf die Buchausgabe der Milagros kaufe, merke ich, daß ich das Altspanische gut verstehe, zu meiner Schande vielleicht besser als Mittelniederländisch. Schön ist der Bruch, den er in jeder Zeile macht – er gleicht einem Graben, der sich durch den Satzspiegel zieht, auf beiden Seiten ein Satzspiegel aus Wörtern. Beim Lesenstoße ich auch auf die Teile, die sie nicht aufgeführt haben, unverfälschter und unverschnittener mittelalterlicher Antisemitismus, der später unter Ferdinand und Isabella solch schreckliche Folgen haben sollte. Finsteres Mittelalter, ist man dann geneigt zu sagen, hätte man nicht selbst in einer Zeit gelebt, in der sich zu dieser Finsternis die Erleuchtung der Technik gesellt hätte, mit dem schrecklichsten Pogrom aller Zeiten als Resultat der Vermischung.
    Abend, die Kälte der Hochebene und die Kälte des Winters fügen sich zur Kälte der Plaza Mayor, hoch, granitfarben, ein Platz wie ein Königssaal. Nur an den Ausgängen ist Leben, wer darauf zusteuert, geht unter den Arkaden des Platzes durch, niemand überquert ihn, als wäre es in seiner Mitte zu leer und gefährlich. Im Schaufenster des Restaurants La Toja liegen Flundern, Krebse, die noch müde blinzeln, Neunaugen mit ihren gräßlichen Mäulern, in denen die dreieckigen Zähnchen gemein auf blitzen. Aus einem Keller tönt falsche, antike Klaviermusik, ich gehe die Treppen hinunter, an Theken mit Schalentieren, Würsten, Schwarten und den einfältigen Gesichtern von Spanferkeln vorbei. Die Kellner tragen die Kniebundhosen und schiefen Samthütchen-mit-Bommel der andalusischen bandoleros , aber sie sehen nicht verkleidet aus, dafür sind ihre Gesichter zu breit und zu ländlich, ihre Stimmen zu hart, ihre Blicke auf die eintretenden Frauen zu flink. Das Klavier wird mit einer Kurbel betrieben, und der Mann, der an der Kurbel dreht, kennt die Launen des Instruments, denn das will einen Paso doble spielen, aber nur, wenn der Mann in dem grauen Tweedjackett, mit dem roten Schal und der karierten Apachenmütze exakt im Rhythmus mitkurbelt, in den Pausen eine Extraumdrehung macht und durch Beschleunigung und Verzögerung dafür sorgt, daß das Ganze ein wenig falsch klingt, aber doch so, daß man dazu tanzen könnte. Er hat das Gesicht von Manolete, dem 1947 von einem Stier getöteten Stierkämpfer, ein Gesicht wie ein bleicher Heiliger mit

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