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Der Umweg nach Santiago

Der Umweg nach Santiago

Titel: Der Umweg nach Santiago Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
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vielleicht noch ginge.«
    Dokumente sind natürlich die gegebenen Mittel, um die Wende herbeizuführen, ohne die Geschichte keine Geschichte ist. Wenn ich lese, daß der König an seinen Sekretär schreibt, »Ich denke ununterbrochen an die Niederlande«, dann fällt es mir fast schwer, mir vorzustellen, daß es sich hier um die Geschichte meines Vaterlandes handelt, die Geschichte von Alba, dem Blutrat, Egmont und Hoorne, den Geusen, dem Wilhelmus. Ich höre noch immer die Stimme, die mich bereits in der Grundschule mit dem Bild eines grausamen Feindes vertraut machte, ganz gewiß nicht mit dem eines Mannes, der ununterbrochen an die Niederlande dachte, »weil alles andere davon abhängt. Wir haben so lange dafür gebraucht, Geld aufzutreiben, und die Lage ist so verzweifelt, daß ich bezweifle, ob wir die Niederlande noch rettenkönnen«. Retten, so hatte ich es natürlich nie gesehen. Alles drehte sich darum, daß der König zwar bereit war, eine Generalamnestie zu erlassen und einen großen Teil des beschlagnahmten Besitzes zurückzugeben, sich aber weigerte, eine Schmälerung seiner landesherrlichen Rechte hinzunehmen, und schon gar, Religionsfreiheit zu gewähren. Im Oktober 1574 schreibt Statthalter Requeséns (ich rieche meine Schulbank – ich sehe Fräulein de Vos mit ihren roten Haaren, ich höre unsere Kindermünder die fremden Klänge nachsprechen: Reekwesens): »Selbst wenn wir Meere an Zeit und Geld besäßen – es wäre nicht genug, um die vierundzwanzig aufständischen Städte in Holland mit Gewalt zur Kapitulation zu zwingen, wenn wir für die Unterwerfung jeder einzelnen Stadt soviel Zeit brauchten, wie es bei anderen Städten bislang der Fall war.« Und dabei muß der moderne Mensch stets im Auge behalten, wie langsam die Kommunikation vonstatten ging. Ich versuche mir manchmal vorzustellen, welche Auswirkungen das auf die Psyche hatte. Man sandte einen Brief oder entsandte ein Heer oder einen Landvogt – dann passierte eine Zeitlang gar nichts, dann verdoppelte sich dieses »Garnichts« noch durch den Rückweg, und dann erst erfuhr man, was daraus geworden war: Die Gleichzeitigkeit der Ereignisse, an die wir so gewöhnt sind, gab es nicht. Die Astronauten können aus dem All mit dem Weißen Haus sprechen, aber auf einen Brief Philipps nach Chile kam erst nach gut einem Jahr Antwort, falls überhaupt Antwort kam. Man entsandte ein Heer, das eine Schlacht schlagen sollte: Hatte man den Zeitfaktor psychisch bereits berücksichtigt, so daß man sich eine Weile keine Sorgen machte, oder brachen Wochen marternder Ungewißheit an?
    Botschafter, Befehle, Kuriere, Reiter. Dem König ist noch einmal eine Verschnaufpause vergönnt: Am 14. April 1574 wird das in Deutschland zusammengetrommelte Heer, das den niederländischen Rebellen zu Hilfe eilen sollte, vernichtend geschlagen. Irgendwo im Escorial hängt ein Bild von dieser Schlacht, eine Momentaufnahme, die die Kämpfenden vor der Schlacht inihrer Aufstellung zeigt. Film, Fotos, Fernsehen, alles muß dieser starre Stich ersetzen, für die Zeitgenossen war dieser statische Bericht die einzig sichtbare Aktualität. Mit Mühe decodiere ich – als müßte ich in einem feindlichen Zeitalter spionieren – die hie und da angebrachten Randnotizen:
    4. EL CAMPO . DEL , RE , DE FRAN
    5. EL . PR . DE PARME
    6. EL . DU DE MÊME
    LA , VILLE , DE ,
    4. NIMEGEN
    2. MOQER , HEYDEN ,
    3. DO . CRISTOFFEL , PALS , MORT .
    5. EL , CO , HERI , DE , NASSAU , MORT ,
    und ich lese daraus: Das Lager des Königs von Frankreich, der Prinz von Parma, der Herzog »desselben«, von Parma also. Die Stadt Nijmegen, die Mokerhei, ein toter Pfalzgraf und ein toter Erbprinz von Nassau. Lange hat Philipp sich an diesem Stich jedoch nicht erfreuen können. Die Schwerkraft seiner fernen Provinzen war gegen ihn, und im Juni schrieb er bereits: »Ich glaube, daß das alles eine Zeitvergeudung ist, wenn man danach urteilt, was in den Niederlanden passiert, und wenn sie verlorengehen, wird der Rest des Königreichs auch nicht mehr lange existieren.« Er hatte recht. Der große, düstere Niedergang Spaniens hatte begonnen. Es wurde zu einem Land, das nicht mehr mithielt, wo die alte Zeit gültig blieb, so daß es bis vor kurzem noch immer so war, als käme man in einen anderen Erdteil, aber eigentlich noch mehr in eine für immer vergangene Zeit, als wäre es einem vergönnt, in einem Europa wie ein Zeitgenosse Stendhals herumzureisen und zu sehen, wie die Welt ohne diesen Fortschritt

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