Der Umweg nach Santiago
der Kirche und warte, bis die Führung beginnt. Diesmal ist es eine Gruppe Spanier vomLand, mit jetzt schon ehrfürchtigen Gesichtern. Sie stehen vor der verlockenden Auslage mit Rosenkränzen und Heiligenfiguren, Gedenkmünzen und Ansichtskarten, Dinge, die sie mit nach Hause in irgendeine ferne Provinz nehmen und die ihr Leben lang den Geschmack der Ferne bewahren werden. Der Führer ist ein Laie, aus seinem staubgrauen Gesicht spricht er zu uns herab, ein Großmächtiger, der an der Heiligkeit des Ortes teilhat, ein Gelehrter, denn die Weisheit von Daten und Namen entströmt ihm nur so. Er will an diesem Tag noch einen Rekord aufstellen, also sehe ich alles nur kurz im Vorübergehen, einen Schimmer vom arabischen Klosterhof mit dem in zwei Stile zerfallenen und doch zueinander gehörenden Brunnenhäuschen, gotisch und maurisch, oder, wie mein spanisches Reisebuch sagt, »el gótico de elevada espiritualidad con el árabe sensorial y humano« – ich glaube es, erhaben, vergeistigt, menschlich, sinnlich, denn ich sehe etwas, was nach oben strebt und schön ist, und ich höre das Tröpfeln des Brunnens, aber ich darf hier nur sehr kurz verweilen, denn der Führer hat die anderen bereits ins Museum getrieben und wartet auf mich wie ein Hirtenhund. In dem kleinen Saal, den ich jetzt betrete, sind in Glasvitrinen bestickte Kasel, Stolen und capas aufgestellt, die einst beim Gottesdienst Dienst taten. Ein eigenartiger Anblick, denn sie stehen wie Menschen ohne Köpfe und Füße da, ein Regiment enthaupteter Priester in Goldbrokat, aber weil sie alle nach einer Seite hin ausgerichtet sind, sieht es so aus, als schauten sie alle, wenn auch ohne Kopf, dorthin.
Cape, capa, mantilla , Pelerine, Kasel – jedes rund geschnittene Kleidungsstück, das oben ein Loch hat, symbolisiert die Kuppel, das Zelt, das Rundhaus, wobei das Loch (als Durchlaß für den Kopf ) als Schornstein dient. »Aszendierende Symbolik« nennt das Dictionnaire des Symboles das, »himmelwärts gerichtete Bildersprache«: Der mit Albe oder Kasel bekleidete Priester befindet sich rituell im Zentrum des Universums, er steht auf der Weltachse mit seinem himmlischen Zelt, der Kopf im Jenseits, wo Gott sich befindet, dessen Vertreter er hier auf Erden ist. Jetzt sind es leere Zelte, die Köpfe, die einst aus ihnen ragten, sind selbst im Jenseits,oben oder unten, wer weiß das schon. Sie haben ihre goldenen Wohnungen zurückgelassen, ein leeres Dorf von Gold und Zierat, mit heiligen Bildern überreich bestickte Totems. Stich für Stich hat der Mönch Jerónimo Audije de la Fuente vor fünfhundert Jahren die capa rica bestickt, und ich, mit meinen späteren Augen dicht davorstehend, vergehe im orgiastischen Gold, in den verschlungenen, wogenden Blättern, der Über fülle der Früchte, dem Leuchten der Sonnenblumen auf dem seidenen Feld.
Beati / qui in / Dno / moriun / tur – »Selig sind die Toten, die in dem Herrn sterben«. Die Männer, die diese Gewänder (doch dies sind keine Gewänder mehr, es sind Panzer) anfertigten und trugen, sind längst entschwunden, ihre Körper sind aus diesen tödlichen Hüllen geschmolzen und vom gleichen fröhlichen, sprunghaften Tod mitgenommen worden, der noch immer darauf gestickt ist. Priester, Diakon, Subdiakon, Kasel für eine Requiemmesse »mit drei Herren«, wie eine düstere schwarze Trias stehen sie hinter dem Glas. Sehr vergnügt steigt der gestickte Tod aus dem Sarg, die Sense dräuend hinter sich. Gibt es das, schwarzen Brokat? Der Tod ist aus Silber, harte Stiche auf schwarzem, Faden um Faden gefertigtem Grund. In der Rechten hält er die furchterregenden abgenagten Knochen, sein kompakter Brustkorb sitzt an einem stabilen Rückgrat, das senkrecht aus dem goldenen Sarg aufsteigt. An einem einzigen Gewand zähle ich zwanzig Totenköpfe – was mag der Stickende beim zwanzigsten empfunden haben? »Fünfzig Kilo wiegen die Chorbücher«, höre ich den Führer sagen, aber als ich bei den illuminierten Handschriften bin, ist er schon wieder weiter, ich kann nur einen flüchtigen Blick auf das Altargewand Heinrichs IV . von Kastilien werfen, auf den glotzenden Ochsen und den schielenden Esel in dem aufgeschlagenen Gesangbuch, dessen nächste Seite ich nie sehen werde. Das Kind im Stall scheint gespickt mit Strohhalmen, aber es ist das goldene Licht, das aus seinem nackten kleinen Leib strömt, und während ich mich, gehetzt von dieser mich und nur mich meinenden Stimme, von dieser Szene entferne, überkommt mich ein
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