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Der Umweg nach Santiago

Der Umweg nach Santiago

Titel: Der Umweg nach Santiago Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
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Aufschriften. Hier herrscht eine übermütige Stimmung wie in Garnisonsstädten oder Provinzhauptstädten an den Grenzen des Reichs, sie ist spanisch und nicht spanisch und kommt einem vor wie aus einer anderen Zeit. Ich gehe in eines der Lokale. Spanisch kann ich lesen, aber die Speisekarte ist zum Teil in einer Geheimsprache abgefaßt. Txangurro. Kokotxas. Ich bestelle letzteres und bekomme eine braune Tonschüssel mit einer merkwürdig gräulich glänzenden Masse, die nach Fisch schmeckt. Auf Nachfrage erweist es sich als ein Gericht, das es sonst nirgends gibt: die Hälse oder Nacken, oder ein Teil davon, von Schellfischen. Es schmeckt sehr gut, aber ich habe doch das Gefühl, sehr weit weg zu sein. Ich bin der einzige Fremde im Restaurant. Ein Ehepaar, eine Gruppe von sieben Frauen, zwei Soldaten, ein verliebtes Pärchen. Gesprächsfetzen plätschern über meinen Tisch, ich verstecke mein englisches Buch unter der Speisekarte und versuche, so baskisch wie möglich zu schauen.
    Draußen ist jetzt mehr los. Die Menge zieht in Grüppchen durch die Straßen. Es herrscht eine gewisse Erregung, unverständliche Lieder werden gesungen, ich gehe wie ein Schemen an denHauswänden entlang und plötzlich bin ich draußen und stehe vor einem großen, dunklen Gebäude und höre das Meer. Vor mir ein kleiner, gespenstischer Park mit gestutzten, gräßlich verstümmelten Bäumen, ein Heer von Mißgeburten in Schlachtordnung aufgestellt, vom Wind leicht gebeugt. Antike Ballonlampen, von denen nur noch ein paar funktionieren, stehen wie Offiziere dazwischen. Hinter den beschnittenen Ligusterhecken höre ich die Brandung rauschen. Unter mir muß der berühmte Strand von San Sebastián liegen, la Concha, die Muschel, ein Halbmond, von den weiten Armen der Bucht umschlossen.
    Am nächsten Morgen sehe ich alles besser. Das Gebäude, vor dem ich stand, ist die Casa Consistorial. Der Regen macht das betrübte Ocker der Mauern noch dunkler. Auf einer Bank ist zu lesen »No a la mili, sí al desarme« , nein zur Armee, ja zur Abrüstung, und das Heer schwarzer, nasser Bäume steht noch immer so da, kurzgehalten, kleiner als Menschen, blattlose Platanen aus dem Alptraum eines Zwerges. Alle Mauern sind voll mit Freiheit und Amnestie, und vor diesen Mauern stehen an jeder Ecke Polizisten in Grau. Sie haben ihre Plastikvisiere aufgeschlagen und sind mit Gewehren, Karabinern, Revolvern bewaffnet. Allmählich verstehe ich die Stimmung vom gestrigen Abend besser. Sie sind nirgends nicht , und sie sind nervös. Auf dem paseo , auf den Plätzen, bei der Buchhandlung. Hunderte. Vor dem Tor des Gobierno Militar stehen zwei einfache Soldaten, die Karabiner mit dem Lauf nach unten. Ich kaufe ein paar Zeitungen und gehe ins Café Barandiarán, ein düsteres Haus aus Resopal, Spiegeln, Plastik.
    Bus 101 kommt vorbei (»Eßt Doughnuts«), ein lahmer Schuhputzer breitet seine Sachen aus, der VW -Bus der Stimme Spaniens hält an der Ecke, und der Fahrer gibt dem Verkehrspolizisten eine Zeitung, die dieser in seine Innentasche steckt, die Coca-Cola-Uhr schlürft an der nie zu Ende gehenden Zeit, ich lese meine Zeitung und schaue auf die für den Winter hochgebundenen Palmen und die leeren Bürgersteige dieses Sonntagmorgens und wünschte, mein ganzes Leben wäre ein spanischer Sonntagmorgen in der Provinz und ich selbst jemand, der da hinein paßte.Irura, Uzturre, Tolosa, Lizarza, Azcarate, Latasa, Irurzun. Ich fahre durch den Regen in die Hügellandschaft hinein. Manchmal sehe ich die Berge zu meiner Linken, als ich anhalte, höre ich den Fluß. Am Anfang jedes Dorfes und vor den Brücken über den Bergflüssen stehen Schilder mit Namen, im Weiterfahren spreche ich die Laute dieser Namen aus. Die Straße ist noch kurvig, die bergige Landschaft grün, wenn ich die Ausläufer der Pyrenäen verlassen habe, wird das Land sich weit öffnen, eben sein, wellig, leer. Eiserne Wolken hängen dann über den rostigen Feldern des ehemaligen Königreichs Navarra. Verkehr gibt es hier nicht, Touristen suchen hier nichts, und die Gegend ist nicht sehr besiedelt. Alt, alt ist das Gefühl, das allem anhängt, Zeit ohne Zeit, leere Hinterzimmer der Geschichte. Festungsartige Kirchen mit leeren Storchennestern, an einem fernen Hang die sich bewegende Zeichnung einer erdfarbenen Herde, sonst nichts. Ich bin unterwegs nach Olite, aber in dieser sich ständig selbst wiederholenden Landschaft komme ich mir wie ein Pilger nach nirgendwo vor. Das gleiche, das gleiche, das

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